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Laudatio auf Robert Menasse

Von Robert Schindel, dem alleinigen Juror, anlässlich der Verleihung des Erich Fried Preises 2003 am Sonntag, dem 16. November 2003, im Literaturhaus, Wien.

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Wir leben alle auf einem Teppich, der, obwohl er wie angeklebt wirkt, doch durch die Zeiten fliegt. Einen dieser Teppiche, der wie eine etwas verschrumpelte Birne aussieht, nennen wir Österreich. Sein Zeitflug allerdings war von ramponierender Art, sodass gegen Ende eben diese Birne übrig blieb, wobei die Verfransungen, Ausfransungen, Schrumpfungen die Geschichte unserer Vorgeschichte abbilden. An einem Ort zu leben, in einer Gegend und in die Tiefe der Zeit zu schauen, die aus diesem Loch herausgeflogenen Töne, Wörter, Figuren wahrzunehmen und durch einen schluckartigen Verwandlungsprozess der Einverleibung und Ausgestaltung geistesgegenwärtig zu machen, ist ein Unterfangen zirzensischer Provenienz für die meisten, dem Schriftsteller Robert Menasse einige Jahre lang tagtägliche Fron. Er ist in seinem Häuschen im nördlichen Waldviertel gesessen und hat aus seinem Fenster über die Wiese geblickt auf einen räudigen Waldersatz, der sein Haus vom Teich dahinter abtrennt. Doch der Waldersatz hat sich nicht übel geeignet als Umrandung des Zeitloches und so sah ich ihn immer wieder Bücher, Fotos, Gemälde in das Zeitloch werfen, nachdem er diese vorher angekauft und sich mit dem Wesen dieser Dinge vertraut gemacht hatte. Hernach ist er auf dem Bankerl vorm Haus gesessen, wenn es Sommer war, und hat gewartet, bis aus dem Zeitloch Zeugs zurückkam, welches mir unverständlich gewesen ist, ein verkohltes Knie, ein versteinerter Embryo, Schöberlsuppe, Holzsärge, Echoschreie, ein betrunkener Lehrer auf dem Weg nach Rom, ein Eispickel in Mexico City, Katzen, gebrauchte Unterhosen in einer Wohngemeinschaft, kreisende Menschenmengen. Dazu tönte es, gurgelte es und schwieg. Getroffen von den Gegenständen aus dem Zeitloch ist er vom Bankerl aufgestanden, hat etwas geflüstert von "eine Katastrophe", "des daschreib ich nie", "ich bin vollkommen leer", "ein Lyriker hätt ich werden sollen" und ist hineingegangen in seine Arbeitsstube, ist verschwunden unter dem Haufen der Artefakte, indem er vor seinem Schreibtisch versucht hat, den Nachmittag zu überleben. Abends hat er sich sein Lieblingsessen, gebratenes Huhn, zubereitet und hat zumeist geflüstert "ka Seiten, höchstens a halberte Halbe, Katastrophe". So wuchs "Die Vertreibung aus der Hölle", kontinuierlich und diskontinuierlich, die Geschichte seiner, meiner, unserer Vorgeschichte einerseits, die Durchwirkung des gegenwärtigen Teppichs andererseits. Wuchs und wuchs. Der Autor bleichgeglüht und halb totgefroren von den grässlichen Sachverhalten der Vorgeschichten musste diese eben in der Gegenwart balancieren, mit dem kruden Geschehen des Jetzigen austarieren, ein Kraftakt sondergleichen über lange Zeit.

Wenn es bloß ein Kraftakt wäre! Es kommt aus dem Zeitloch unverständliches Gebracke herausgenesselt, dessen Grammatik so entscheidend ist. Da muss der Autor wie eine Blume vor der Sumpflandschaft sich einwurzeln und rezipieren, vor allem hören. Er muss endlosen Schweigesinfonien zuhören, die Kontrapunkte und Übergänge erspüren, die Rubati erdulden und auf die Legati warten. Endlich traut er sich, in die Schweigeräume die Wörter hineinzuschieben, den Wendungen zu folgen, ohne sie selbst zu biegen, sie aber dann doch selbst zu biegen, falls die Wendungen in Sackgassen enden. Schließlich muss er die eigenen Wörter vom Widerschein des Vergangenen ausbacken lassen, das Vergangene aber auch durch dessen Wörter in der eigenen Gegenwart zur Glasur bringen. Es genügte nicht, das aus dem Zeitloch Heraufgekommene mit mächtigen Pranken gegenwartsreif zu prügeln, denn dann sähen wir bloß einen, der sich zur Übersetzungsmaschine zurücknimmt oder zum Aktualitätsdesigner des Vergangenen prononciert. Das kommt oft vor.

Schon für diesen, bisher letzten Roman gebührt dem Schriftsteller Robert Menasse der Erich Fried Preis, dieses sedimentierte Knochenhebräisch und Knochenspaniolisch, überblutet durch die Messer des Portugiesischen und Spanischen, durchs Niederländische jedoch mit der Chance gestärkt heraufzuwachsen, um dann hier vom Deutschen, garniert mit den Schmähdolchen des Wienerischen, ins Erdreich kartätscht oder mit inniger Musik in die Luft geblasen zu werden - dieses Knochenhebräisch liegt nun als Humus im jetzigen Österreich allerorten, es durchwirkt und spitzt das Aktuelle. Den gegenüberliegenden Begriff in den Kern der Geschichte hineinwachsen zu lassen, dazu hatte Menasse die künstlerische Gelassenheit und die hegelsche Bildung. Dies jedoch macht das Werk einzigartig, weil hier eine Zusammenzwingung gelungen ist, die wieder und wieder von jenem Zeitloch zeugt, aus dem sie ihr Material und ihre Kraft bezog.

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Ins Zeitloch starren, das ist das Eine. Doch auf dem Teppich Österreich zu leben und tagtäglich in den Fernseher zu schauen und die Zeitungen zu lesen, das ist etwas anderes. Menasse ist mit den Wülsten und Verknotungen des Nachkriegsösterreich aufgewachsen, ein Zeitgenosse, der schon früh mit seinen Mitgenossen zusammengesperrt wurde - Zöglingserfahrungen - und einen Nervenquerschnitt der österreichischen Seele durchleiden musste und durfte, um als Student schließlich im Jahrzehnt der second hand-Ideologien auf der Universität zu erscheinen. Dort gaben sich die Wiedergänger der zweiten, dritten und vierten Internationale ihre schreienden Stelldicheins. Dort wurden mit den Auseinandersetzungen von 1903 zwischen Menschewiki und Bolschewiki die Schlagwörter für ein künftiges marxistisch-leninistisches, ein sozialistisches, kommunistisches Österreich geschmiedet. Ich war dabei, mittendrin, ich weiß, wovon ich rede. Auch Menasse, wie so viele, bekam sein Fett ab, doch waren es bloß second hand-Tribunale und second hand-Ausschlüsse, sodass sich die Beschädigungen in Grenzen hielten, nicht auch noch physisch waren. Irgendwie wurde ihm in diesen Jahren das politische Temperament nicht ausgetrieben. Trotz seiner siebenjährigen Abwesenheit vom tiefen Österreich - seiner Lehrtätigkeit in Brasilien - wird er zu einem der wenigen kundigen Leser dieses Gewebes. Schon seine Strukturformel, mit der sich die österreichischen Konflikte aufdröseln ließen, das "Entweder-und-Oder" befähigte ihn zu überraschenden und das österreichische Selbstverständnis transzendierenden Diagnosen.

Jetzt kommt Erich Fried in den Raum gestapft. Fried hat es sich selten verkneifen können, sich sofort ins Getümmel zu werfen. Kein tagespolitischer Anlass war ihm zu nichtig, keine Politikeräußerung zu dämlich, um nicht in die Arena zu springen und seine Conditio humana auszurollen. Als sei er es seinem erschlagenen Vater schuldig gewesen, griff er in die Angelegenheiten der Herrschenden ein und scheute sich nicht, Grenzen zu überschreiten, in die Irre zu gehen, um allerdings auch lächelnd wieder aus der Irre zurückzukommen. Wie kann so etwas gut gehen, dachte ich damals. Was geschieht mit Sprache, wenn sie so unterschiedlich vom gleichen Menschen und Dichter eingesetzt wird? Wie kann einer in der Sprache das Universum einer Zeitgenossenschaft konstituieren, wenn er gleichzeitig mit der Sprache den Zeitgenossen bloß die Leviten liest. Erich Fried war es gegeben, in beiden Sprachen zu überdauern, wenn auch manche seiner Gedichte, womöglich zu sehr abgezweckt, in seinem Engagement ersoffen sind. Auch Menasse kann es nicht lassen, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen, denn Österreich ist ganz und gar sein Herzland und deshalb quälen ihn die politischen Dummköpfe, aber Machthaber, noch mehr als andere, die es vorziehen, sich angewidert abzuwenden. Sein ewiger Strauß mit der Sozialdemokratie, sein Kampf gegen die Sozialpartnerschaft als genuin antidemokratischer Parameter, sein Mut, auch mit Freunden und Gesinnungsgenossen sich zu überwerfen, das heißt seine Ansichten ohne Rücksicht auf solche Gesinnungsgenossen durchzuargumentieren, worauf diese sich mit ihm zu überwerfen begannen - dies alles macht die Unbestechlichkeit in seinen Texte notorisch. Und selbstverständlich geht auch er öfter in die Irre, aber wie Fried kommt er lächelnd wieder aus der Irre zurück. Doch etwas Merkwürdiges ist geschehen. Das sich Einmischen und das ins Zeitloch Starren ergibt insgesamt erst diesen speziellen und einmaligen Schriftsteller. So kommt er als Zoon politikon auf uns. So ist der Dichter Robert Menasse uns geschenkt worden.
Ich gratuliere sehr herzlich daher zum Erich Fried Preis 2003.

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