Leseprobe:
„Und wie machen wir es?“
„Du meinst, wie wir uns umbringen?“
„Hast du eine Pistole?“, frage ich und kann mir nicht vorstellen, dass Emanuel eine Waffe im Haus hat. Wie ich ihn kennengelernt habe, ist er durch und durch Pazifist.
„Nein. Du?“
„Nein, aber ich kann vielleicht eine besorgen“, stelle ich in Aussicht und denke dabei an einen Mann, den ich dafür nur einmal ficken müsste.
„Dann darf ich aber zuerst.“
„Scheiße, nein. Keine gute Idee. Ich glaube, ich kann dir dabei nicht zusehen. Dir dann die Waffe aus der blutbespritzten Hand nehmen, neben deinem zerfetzten Schädel. Nein, danke.“
Er schlägt vor, zu springen. Ich werfe ein, dass es ein sehr hohes Dach sein müsste, ich hätte keine Lust darauf, lebenslang im Rollstuhl zu sitzen und aufgrund einer Lähmung gar keine Möglichkeit mehr für einen Selbstmord zu haben. Er erzhält von einer Hochhausbaustelle, die schlecht gesichert sei. Er habe schon einmal auf dem Dach gesessen und über der Stadt den Sonnenuntergang beobachtet. Zwanzig Stockwerke, nur der Aufstieg sei anstrengend, und wer könne wissen, ob er das im September noch schaffe.
„Zeigst du mir die Stelle einmal?“
„Mach ich. Bist du eigentlich depressiv?“, wechselt Emanuel abrupt das Thema, und ich bin etwas verwirrt.
„Wie kommst du darauf?“
„Es bringen sich doch nur Depressive um.“
„Nein, nicht nur. Ich gehöre eher zu den Abgeklärten, den Logikern, die das aus Vernunftgründen machen.“
„Was ist logisch daran, sich das Leben zu nehmen?“
Ich setze mich auf, nehme mir die Tüte aus seiner Hand und ziehe. Schnell legt sich neuerlich eine warme Kreativität auf meine Gedanken. Dreimal setze ich an, um zu erklären, doch es sind die falschen Worte. Plötzlich aber erkenne ich einen roten Faden im Chaos, und ich setze mich lehrmeisterhaft zurecht, um Punkt für Punkt diesem Faden entlang zu erklären. In der Gewissheit, auch er profitiere davon, zu wissen, dass der Freitod eine logische Folge von klaren Gedanken sein kann.
(S. 83)
© 2015 Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main