Leseprobe:
Die Bühnen des venezianischen San Giovanni Crisostomo, des römischen Teatro Argentina und des neapolitanischen Teatro San Carlo fieberten den großen Festen entgegen. Sie warteten auf ein Feuerwerk der Eindrücke: Hunderte Soldaten in echten Rüstungen, galoppierende Pferde, Affen, Kamele und Elefanten, die riesigen Höllenmäuler, aus denen Feuer sprüht und Rauch aufsteigt – die Bühne war immer eine Überraschung.
Das Publikum war bereit, jede Note der langen, zarten Arie des Primo Uomo zu verkosten, über die neuesten Theaterskandale zu tratschen und die verrückten Eskapaden eines genialen Kastraten, der seinen Launen freien Lauf ließ, zu bewundern.
Denn sie waren wirklich zu beneiden, die Starsopranisten – sie konnten es sich leisten zu sagen, dass ihre Stimmen teurer als alle Wünsche des Kaisers sind, oder ein Angebot des Königs ablehnen. Die echten Kaiser und Könige waren sie, die Sopranisten, die Theaterstars. Vielleicht waren sie sogar Götter und die Oper – eine neue Religion.
Das alles war mit den Stimmen der Kastraten in der Vergangenheit verschwunden – und doch nicht, weil man in diesem Schlosstheater in Niederösterreich heute die Vergangenheit aufleben ließ. In ganz großem Stil, gleichzeitig aber heimlich und versteckt.
Eine Museumsrarität war dieser Theaterabend, die gestohlen und in einer Privatsammlung einer kleinen Runde von Eingeweihten vorgeführt wurde.
Der Sommertag wich schon der Nacht und die Felder rund um das niederösterreichische Schloss wurden heidelbeerblau und rauchschwarz. Die breite, gerade Pappelallee endete in der Einfahrtstrasse, die mit unzähligen Fackeln den Weg zur Prachtstiege und zum Haupteingang zeichnete.
Die Parkplätze platzten aus allen Nähten. Teure Limousinen brachten die verkleideten Passagiere zum Eingang, und es schien, als habe sich die ganze Welt da versammelt: Man sah Kennzeichen aus Deutschland und Italien, Liechtenstein und Frankreich, Ungarn und Tschechien, Slowenien und Holland – die reichen Barockliebhaber kamen von überallher zur Geheimvorstellung in das unscheinbare Schloss in der Nähe von Wien.
*
Im Schminkraum saßen zwei großgewachsene Männer mit schneeweißen Gesichtern. Einer drehte sich zu Timo, lächelte, und Timo verstand: Das kann nur Matteo sein, so lächelt kein anderer. Nur trug dieser Matteo eine wunderliche Perücke, seine Augen waren groß, verführerisch und fremd und die Wangen mehlig-weiß, unnatürlich weiß, so weiß, dass Timo ihm das Gesicht putzen wollte.
(S. 93-95)
© 2019 Residenz Verlag Salzburg-Wien