Leseprobe:
Boris schaufelt eine kleine Grube, genießt es, die Sandkörner zwischen den Fingern zu spüren, blickt sie fast versonnen an. "Das Gesicht eines Sandkorns ist das Resultat einer endlosen Reise", fällt ihm ein, und kurz darauf erinnert er sich an eine Lesung, zu der ihn Harald mitgenommen hat. Nur dieser eine Satz ist ihm davon im Gedächtnis geblieben. Ist er poetisch, kitschig, nichtssagend? Ich kann es nicht beurteilen, beschließt er und knetet die Handvoll Körner, ehe er mit beiden Händen den kühlen, dunklen Sand langsam durch seine Finger rieseln lässt, um dann damit seinen Fuß bedächtig einzugraben.
Wie ein amputierter Fuß, denkt er, als er den Sand für seinen zweiten Fuß freischaufelt. Ein Gefühl der Sicherheit steigt in ihm hoch und er erinnert sich, dass bereits in seiner Kindheit dieselben Gedanken auftauchten, wenn er seine Zehen eingrub und er beobachtete, wie sie verschwanden. Das Leben, so sinniert er zu dieser frühen Morgenstunde, als er hinter dem kleinen Hügel die Sonne aufgehen sieht, kann freudvoll und einfach sein, wenn man es nicht mit unnötigen Ansprüchen belädt, die es aufgrund seiner Banalität nicht erfüllen kann. Er betrachtet die Einmaligkeit des Sonnenaufgangs. Boris, du Schwärmer, das passt nicht zu dir, versuch stattdessen einzuschätzen, wie spät es zu dieser Jahreszeit in diesen Breiten sein kann.
(Seite 56 f.)
© 2017 Bibliothek der Provinz, Weitra