Leseprobe
3.30 Uhr, der Handywecker läutet. Damit ich rechtzeitig aufstehe, um mit Heinz spazieren zu gehen, ohne dass mich jemand sieht. Ich war aber längst wach. Unwirklich fühlt sich die Uhrzeit an. Ich kann nicht sticken, meine Hände sind zu fahrig; ich sitze im Dunkeln, seit Stunden aufrecht im Bett, nur die linke Zeigezehe schläft. Die Klospülungen im Haus sind von Stunde zu Stunde weniger geworden. Heinz ist verwirrt, er musste eigentlich schon am Abend raus. Er hat gejault, dann gewimmert. Ich habe ihn mit Keksi bestochen. Mörder können am Abend nicht raus, Mörder können gar nicht raus. Die einen sitzen im Gefängnis, und das für viele Jahre. Andere im Dunklen. Sie führen ihre Hunde nur vor dem Morgengrauen Gassi. Wenn niemand auf der Straße ist.
Es ist nicht die schlechteste Uhrzeit. Ein blauer Hofer-Lkw. Zwei Taxis. Die Kirchturmuhr läutet vier Uhr. Heinz hält die Schnauze in die Luft. Die Nacht um diese Zeit riecht anders. Nach Weggehen, nach Weglaufen. Wir gehen weiter als sonst. Durch Straßen, in denen wir noch nie waren. Gehen. In Bewegung bleiben. Heinz ist einmal vor mir, einmal hinter mir. Wie ein Hirtenhund. Er hat viel zu Markieren und Wittern und Lauschen. Er sieht mich nicht an. Aber er läuft auch nicht davon. Ich werde ruhiger. Mein Hirn windet sich. Gedanken, die sich überschlagen. Ist Auswandern eine Lösung? Ich habe keinen gültigen Pass, kein Geld, muss mich wieder beim Arbeitsamt melden. Das weiß die Polizei längst. Wenn ich nicht öffne, werden sie mir dort auflauern. Ich verwerfe den Gedanken. Wer vor der Polizei flüchtet, geht dazwischen nicht aufs Arbeitsamt.
Ein neues Gefühl: Wien umklammert mich wie eine Frau beim Sex mit zwei Beinen. Ich muss weiter. Einatmen. Ausatmen. Die Sonne beginnt vorsichtig aufzugehen. Im Stiegenhaus nehme ich Heinz an die Leine. Wir schleichen an der Tür des Nachbarn vorbei. Dahinter wohnt jetzt eine Witwe.
(S. 43-44)
© 2019 Kremayr & Scheriau, Wien