Leseprobe:
Katja
Ob sie zu ihm rauskommen könne. War da ein unterdrücktes Zittern in seiner Stimme? Muss sie sich Sorgen machen? Oder löst der Anruf ihres Vaters nur jenes latente Gefühl aus, das sie von Kindesbeinen an begleitet, die Sorge um die Eltern. Sie ist schon lange nicht mehr dort draußen gewesen, hat schon lange nicht mehr mit ihm gesprochen, ihn nicht mehr gesehen. Was heißt lange? Ein paar Wochen ist es her, dass Katja zu ihrem Vater hinausgefahren ist, Richtung Stadtrand, über die Vorortelinie hinaus, in den Bezirk, in dem sie aufgewachsen ist.
Ob sie zu ihm rauskommen könne.
Was sonst? Hatte er jemals diesen, seinen Bezirk verlassen? Mehr als fünfzig Jahre Ottakring in Körper und Geist. Ein Ottakringer durch und durch, Ottakring lebenslang. Ein schmächtiger Bub, ein kleiner Mann, ein Vater. Hochintelligent, in schlechten Zeiten geboren, zeitlebens ein „Nerverl“. Ein intimes Wort, ein Wort der Kindheit, ein Wort aus Ottakring.
Warum kostet es Katja immer noch Überwindung, dort hinauszufahren? Sind doch die Bilder ihrer Kindheit im Gemeindebau bunt, fröhlich und unbeschwert. Grüne, blühende Innenhöfe, warme, von der Sonne beschienene Holzbänke, genug Platz zum Laufen, Spielen, Turnen auf der Klopfstange neben den Fliederbüschen. Ein behänder Felgeaufschwung im Vorbeigehen, noch vor der Schule, noch bevor man lernte, dass das muntere Klettern auf den Eisenstangen Felgeaufschwung heißt.
Keine Spur von Angst.
(S. 7)
© 2016 Picus Verlag, Wien