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Ich fühlte mich jedenfalls nicht wohl. Der Verdacht, dass sie das absichtlich machte, dass sie mich mit ihrem teuren Geschmack auf meinen Platz verweisen wollte, ließ sich nicht abschütteln. Sie redete über ihre Arbeit, sie war die Assistentin einer Ministerin oder die Beraterin oder weiß der Teufel was, jedenfalls begleitete sie die Ministerin auf offizielle Termine und schüttelte ständig irgendwelche wichtigen Hände – es war mir herzlich egal, warum erzählte sie mir das alles? Was sollte ich darauf erwidern?
Ich schenkte mir noch ein Glas Wein ein und lehnte mich zurück. Sophies Brüste hoben und senkten sich unter ihrem Kleid. Obwohl der dunkle Stoff recht dick war, war es offensichtlich, dass sie keinen BH trug. Ich musste mich bemühen, ihr in die Augen zu schauen.
Vielleicht hatte sie auch die Unterhose weggelassen. Ich stellte mir vor, wie es wäre, ihr zwischen die Beine zu greifen. Ihr Bauch war sicher faltenlos und fest, womöglich etwas rund. Sie gehörte sicher nicht zu den Mädchen, die für ihr Aussehen auf ihr Dessert verzichten.
Sophie hatte aufgehört zu reden; sie schaute mich an, ihre Augen waren halb geschlossen. Erst nach ein paar Sekunden begriff ich, dass wir schon seit Minuten schwiegen.
"Entschuldige, ich war in Gedanken", sagte ich.
Sophie nickte langsam.
"Es ist seltsam, dass du hier bist", sagte sie weich. "Du passt nicht in meine Wohnung."
Ich schaute sie an, ehrlich überrascht. Hatte ich mir etwas anmerken lassen?
"Was meinst du damit?" fragte ich, eine Kleinigkeit zu hart.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, legte dann ihre Hand auf mein Bein und begann, es leicht zu massieren.
"Entspann dich einfach." Ihre Stimme klang mitleidig und eine Spur gelangweilt.
Der dunkelrote Nebel stieg in meinen Kopf. Am liebsten hätte ich sie an den Schultern gepackt und geschüttelt, so fest, dass ihre Zähne gegeneinanderschlagen und der samtig verschlafene Blick aus ihren Augenhöhlen fallen würde, aber ich riss mich zusammen. Das war nicht der Zeitpunkt, mich gehen zu lassen.
In kritischen Momenten trete ich manchmal meine Empfindungen an einen Beifahrer ab. Ich sitze dann neben mir, beobachte mich von außen und gebe Anweisungen. Was passiert, passiert nicht mir, sondern jemand anderem. Dadurch kann ich auch in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahren. Sophie testete mich. Wenn ich mich jetzt falsch verhielt, würde ich mich verraten, ihr zugestehen, dass sie recht hatte mit ihrer Verachtung. Dann hätte sie gewonnen; diese Niederlage würde ich nicht wieder gutmachen können. Sie hatte sich auf den Thron gesetzt und wollte meine Ergebenheit prüfen. Wenn ich jetzt nachgab, dann war sie die Königin, und ich würde nie mehr sein als ihr Vasall.
Es gibt Verhaltensweisen, die sind älter als unsere Zivilisation. Im Grunde geht es allen Menschen um das Gleiche – wer ist oben, und wer unten. Wer übt Macht aus, und wer muss Macht über sich ergehen lassen. Egal, ob es um Freundschaft geht, um Arbeit, Politik oder um Liebe. In jedem Paar gibt es einen, der bestimmt. Der vorgibt, ob und wann die Schritte gesetzt werden, aus denen eine Beziehung besteht: der erste Kuss, Zusammenwohnen, Heirat, Kinder. Beizeiten wechselt das Szepter von einer Person zur anderen, aber das sind Ausnahmen. Normalerweise zeigt sich schon am Anfang, wer der Alpha ist. Und wenn das einmal ausgefochten ist, dann bleibt das in der Regel auch so. Im Tierreich ist es äußerst selten, dass ein etabliertes Alpha-Tier von einem Tier mit einer niedrigeren Position hinterfragt wird, sobald der Status einmal klar ist. Sicher, irgendwann wird der Leitwolf von einem neuen, jüngeren Wolf herausgefordert. Aber die Wölfe, die bereits vom Leitwolf besiegt wurden, kennen ihren Platz und kuschen.
Bei Menschen sind die Schlüsselmomente, die eine Statusposition bestimmen, weniger offensichtlich. Natürlich kommt es vor, dass jemand sich mit den Fäusten oder einer Waffe den nötigen Respekt verschafft. Aber je höher wir die gesellschaftliche Leiter hinaufklettern, desto seltener werden körperliche Konfrontationen. Umso wichtiger ist es, auch subtile Machtausübung als solche zu erkennen.
Wenn man das verstanden hat, hat man einen klaren Vorteil gegenüber all den Gestalten, die irgendwann begonnen haben, tatsächlich an das dünne Gewebe pseudomoralischer Werte zu glauben, das uns seit dem Kindergarten übergestülpt wird. Dass Menschen alle gleich sind (sind sie natürlich nicht), dass Liebe Selbstaufgabe bedeutet (romantischer Blödsinn) oder dass die Politik das Wohl der Bürgerinnen und Bürger zum Ziel hat (lachhaft). Wenn man diesen Schwachsinn tatsächlich glaubt, dann ist man selber Schuld – dann wird man ausgeschlachtet und merkt es nicht einmal.
Ich war nie naiv, ich habe schon bald begriffen, worum es eigentlich geht. Natürlich habe auch ich meine Schwächen, und die kenne ich auch. In Mara zum Beispiel war ich blind verliebt, ich war bereit, an das Märchen der reinen Liebe zu glauben und ihr meinen eigenen Ehrgeiz zum Opfer zu bringen – bevor ich verstand, dass auch sie ihre Agenda verfolgte und mich im Endeffekt nur ausnutzte. Um ihr privilegiertes Gewissen zu befriedigen, um sich geliebt zu fühlen, was auch immer. Um mich ging es ihr jedenfalls nicht. Ich hatte sie auf ein Podest gehoben und mich selber dabei vergessen.
Diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen.
(S. 162-165)
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