Theaterstücke.
Reinbek: Rowohlt, 2018.
592 Seiten; gebunden, Euro 34,-.
ISBN: 978-3-498-03242-5.
Elfriede Jelinek
Leseprobe
Ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer, Anschläge von Fundamentalisten auf Zeitungsredaktionen, die Angst vor den Fremden bei uns, gepaart mit dem Gefühl, sich selbst fremd zu sein: In drei großen Texten – "Die Schutzbefohlenen", "Wut" und "Unseres" – macht Elfriede Jelinek den fortschreitenden Wahnsinn unserer Gegenwart unmittelbar erfahrbar. Wortmächtig und hellsichtig stellt sie westliche Grundwerte wie Humanismus, Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte auf den Prüfstand und scheut sich dabei nicht, ihre eigene Rat- und Fassungslosigkeit angesichts einer Welt zu artikulieren, in der sich politische Fronten immer mehr verhärten und zugleich anscheinend nichts mehr sicher ist. (Rowohlt Verlag)
Der schön aufgemachte Sammelband ist ein reiner Textband, er enthält die genannten drei Stücke ohne weiteren Kommentar, Literatur pur also, eine einzige Textflut, wie gewohnt bei Elfriede Jelinek, die seit nunmehr zwanzig Jahren, seit ihrem "Sportstück" aus dem Jahr 1998, ihre Theatertexte als Prosa schreibt, als kunstvolle Gedankengeflechte voller intertextueller, historischer, politischer und anderer Bezüge und in jener unverkennbaren Sprache, die letztlich gar keine Theaterbühne braucht, um ihre Wirkung zu entfalten. Lesevergnügen sollte also garantiert sein, trotzdem ist es zur Einstimmung vielleicht hilfreich, die Verortung der Stücke in den politischen Ereignissen, die jeweils zu ihrer Entstehung geführt haben, zu kennen:
Die Schutzbefohlenen
Uraufführung am 23.05.2014 am Nationaltheater Mannheim in Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg in der Regie von Nicolas Stemann, danach zahlreichte Aufführungen an führenden Theatern im deutschsprachigen Raum sowie diverse Theaterprojekte mit Flüchtlingen.
- Zur Entstehung:
Im Herbst 2013 besetzten 60 Asylsuchende eine Wiener Kirche; im Sommer waren die meisten von ihnen aus Österreich ausgewiesen worden. Wenig später ertranken hunderte Asyl suchende Menschen aus Somalia und Eritrea vor der Küste von Lampedusa. Die Überlebenden wurden von den italienischen Behörden in den europäischen Norden geschickt.
Elfriede Jelinek, die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin, schrieb ihren Theatertext "Die Schutzbefohlenen" als Reaktion auf diese Ereignisse. In ihrem Text verschränkt sie die heutigen Tragödien der Asylsuchenden an den EU-Außengrenzen, die Kirchenbesetzung in Wien, die Katastrophe vor Lampedusa, ihre Ursachen und ihre Folgen mit Motiven aus Aischylos' Tragödie "Die Schutzflehenden" und gibt den Geschichten der Asylsuchenden eine Stimme: Bitte helfen Sie uns. Unser Fuß hat Ihr Ufer betreten, doch wie geht es nun weiter?
(Nationaltheater Mannheim)
Wut (kleines Epos. Geh bitte, Elfi, hast dus nicht etwas kleiner?)
Uraufführung am 16.04.2016 an den Münchener Kammerspielen in der Regie von Nicolas Stemann.
- Jelinek hat für ihr Stück "Wut" die Anschläge von Paris zum Anlass genommen. Also jene tödlichen Attentate auf acht Redaktionsmitglieder des Satiremagazins "Charlie Hebdo", zwei PolizistInnen und vier KundInnen eines Supermarkts für koschere Lebensmittel im Osten der Stadt. Ihr Text entfesselt die Wut, die zu ihnen geführt haben mag. Jene Wut, die in einer grandiosen narzisstischen Selbstermächtigung alle Zweifel und jede Ohnmacht hinwegfegt zu einem: Das jetzt, das ist unser Moment! Ihr hattet eure Zeit, jetzt ist es unsere! Seht her und sterbt!
Die Autorin bleibt allerdings nicht stehen bei der blinden Wut islamistischer Terroristen, es ist ein vielstimmiger Wut-Chor. Die Stimmen deutscher Wutbürger sind darin ebenso enthalten wie die anderer "aufrechter", "erwachender Europäer" – oder jene des antiken Helden Herakles, der, von der Göttin Hera verwirrt, im Wahn die eigene Familie auslöscht. Auch die Wut der Autorin selbst mischt sich hinein. Ihre Wut auf all die Ohnmächtigen angesichts des Terrors der Wut, die Wut auf die Wut-Dealer, auf die Populisten und Demagogen, die Wut auf die Wut-Hungrigen und -süchtigen, die Wut aber auf die eigene Ohnmacht, dass im Schreiben das Unbeschreibliche wieder nicht zu fassen zu kriegen, nicht verständlich zu machen sein wird.
Aber: Ist Wut nur als Motor zur Zerstörung denkbar? Wie sie teilen, wie Ausgeschlossene, Abgehängte darin verbinden, ohne andere auszuschließen? Was könnte dann nach ihr entstehen?
(Münchner Kammerspiele)
Unseres
Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag
(www.rowohlt-theaterverlag.de)
- Zum Inhalt: Ein Asylwerber klettert auf eine Straßenbahn und greift nach der Oberleitung. Im Internet entlädt sich der Hass auf den Fremden, den Elfriede Jelinek in ihrem Stück "Unseres" thematisiert:
Was, der Vater tot, der Vater tot? Was regen Sie sich auf? Jeder Vater stirbt, Ihrer halt jetzt, gestern, heute, morgen, übermorgen ein andrer, egal, ermordet, sagen Sie? Das können wir glauben oder auch nicht. Und deshalb sind Sie so unglücklich, daß Sie in den Strom nur greifen wollen, anstatt sich zur Gänze hineinzuschmeißen? Da fließt er doch, schon lang fließt er dahin. Worauf warten Sie? Der eine fließt, der andre auch, selbst wenn Sie nicht da sind. Gehts noch? Daß Sie sich auf die Schienen legen? Nicht auf die Schienen, da ist nichts drin für Sie, null Spannung. Gehts noch?
(Textanfang, S. 409)
RED
18. Oktober 2018