Uppsala, 23. August 2007
Flüchtlinge sollten besser keine Mütter haben, hast du gesagt, die sorgten sich zuviel. Als du im Frühjahr 1991 über die Mauer der italienischen Botschaft geklettert bist und fünf Tage lang nicht mehr aus dem Hof herauskamst, der dahinter lag, ist deine Mutter über Nacht ergraut. Das war dein erster Fluchtversuch. Am Morgen des sechsten Tages bist du wieder heimgekommen und hast eine weißhaarige Frau in der Küche vorgefunden. Am folgenden Tag hat sie sich die Haare gefärbt. Niemand weiß, dass sie weiß ist, unter der Farbe. Glänzend schwarz wie die deinen sind ihre Haare vorher gewesen. Du bist der einzige, der sie je weiß gesehen hat. Seither färbt sie immer rechtzeitig nach. Flüchtlinge hätten besser keine Mütter, hast du gesagt, und ich habe mir gedacht, aber wer würde dir dann Geld schicken? Flüchtlinge hätten besser keine Söhne, hätte ich gesagt. Außer diese schickten ihren Müttern Geld. Wie ein Flüchtling hast du aber sowieso nicht ausgeschaut, eher wie ein Rockstar auf Urlaub, der versucht, Volleyballer zu werden, aber man weiß schon, und er weiß es auch selber, dass das nichts werden kann, weil er zu sanfte Hände hat.
Wir sind unter der Brücke am Fluss gesessen, haben Eis gegessen, auf die Häuser an der gegenüberliegenden Seite geschaut, das Haus, in dem ich damals wohnte. In dem Haus daneben hat einmal ein berühmter Komponist gewohnt, zwei Wochen lang. Es steht auf einer Tafel, die an die gelb gestrichene Mauer genagelt ist. Du hast mir erzählt, dass du musizieren kannst, Gitarre spielen und Geige, wie deine Mutter, und dass du Italienisch sprichst, deine Mutter übrigens in Mailand lebt, hast gefragt, ob ich in der Schule Italienisch lernte. Auch singen könntest du, hast du hinzugefügt, ohne meine Antwort abzuwarten, und nach einer kleinen Pause gemeint, das würdest du mir aber nicht vorführen. Ich habe gesagt, dass da mein Vater aus der Haustür tritt, gegenüber, am anderen Ufer des Flusses. Er hielt einen Hund an der Leine. Und gleich habe ich auch verraten, dass das mein Hund ist, den mein Vater da hinauslässt. Du bist ziemlich erschrocken, als änderte das etwas, bekäme unser Sitzen am Fluss auf einmal eine andere Bedeutung, weil aus dem Haus gegenüber gerade mein Vater getreten war.
Du warst der erste Albaner, den ich kennen lernte.
Beim vierten Versuch ist dir die Flucht gelungen.
(S. 20f.)
© 2008 Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien.