Leseprobe:
Das Ende des Gedichts ist kein Ende – das Ende ist eine Anfängerin und ein Gedanken- und Anfangsstrich. Gibt es eine Muse des Anfangs? Sind in diesem Anfang alle Zeiten zu Gast, die vergangenen dreißig und vierzig Jahre und alle Enden und Trennungen? Ist das Gedicht ein Gasthaus, eine heitere Gastgeberin? Das Hungerbrot; aber das Musz. Mir weinten die Haare, aber mir wehten die Haare. Wird aus Lauben: Leben? Wird aus Ende Lebende? Warum ist Friederike Mayröckers Poesie heiter? Weil die Auferstehung nicht etwas am Ende des Lebens Versprochenes, dem Ende Vorbehaltenes ist, sondern die Auferstehung immer jetzt entsteht? Jeder Augenblick ersteht auf? Auferstehung ist nicht verheißen, sondern jetzt? Ist sie ein Anfang? Fliegen wir jetzt? Sehen und hören wir die Finken jetzt?
(S. 29f)
Melden sich in diesem Zwischenraum die Buchstaben zu Wort; melden sie sich zu Buchstabe? es schweifwedelt; - kann sich der Buchstabe bewegen und anders sichtbar werden als in einem Wort, wo er fast schweigt und das Wort etwas bedeuten soll, das gar nicht buchstäblich da steht? Im Wort Baum steht kein Baum da, aber vier unruhige Buchstaben mit ihren Schwüngen und Verästelungen, Gabelungen. Im Wort Haus dient das s dem Haus oder der Bedeutung. Aber wo steht das Haus? In dem Ausdruck es schweifwedelt ist das s da und schlängelt sich, wie es ihm entspricht. S spielt. In dem Wort hochlehniger stehen viele Buchstaben, viele ragen und sind irgendwie hochlehnig, aber wollen nicht hochlehnig bedeuten und Adjektiv sein. Von hochlehnig ist die Rede, aber von ihnen nicht, den Hochlehnigen, h und h und l und h und den nicht ganz so hohen n und i. Sie wollen keine Möbel sein, sondern selber mobil. (…) Wird das Denken zerstreut – und anders aufmerksam?
(S. (107f)
© Matthes & Seitz, Berlin 2016.