15. Kapitel:
Frau Gelautz
Am 25. Juni 1952 hat, wie meine familienhistorischen Recherchen ergeben haben, die Hauptschullehrerin Gelautz meiner Großmutter mütterlicherseits bei einer sogenannten pädagogischen Unterredung mitgeteilt, daß ihre Tochter unmusikalisch sei und ein schlechtes Gehör habe. Dieses fachkundige Urteil der Frau Gelautz war insofern schicksalshaft und hatte für meine Mutter und für mich insofern fatale Konsequenzen, als meine Mutter eigentlich von ganzem Herzen Volksschullehrerin werden wollte, und wäre es ihr tatsächlich gelungen, Volksschullehrerin zu werden oder wenigstens die Volksschullehrerinnenausbildung zu beginnen, hätte sie sich nicht um eine Stelle im Geschäft meiner Großmutter väterlicherseits beworben, hätte also aller Wahrscheinlichkeit nach meinen Vater nicht kennengelernt, und ihr Leben hätte als angehende Volksschullehrerin vermutlich eine völlig andere, jedenfalls nicht zu mir führende Bahn genommen. Eine Volksschullehrerin mußte aber zwei Instrumente beherrschen und durfte daher nicht unmusikalisch sein oder ein schlechtes Gehör haben. [...]
Meine Mutter sagt immer: Die Zeiten waren strenger. Eine Respektsperson duldete keine Widerrede. Und die Gesellschaft war offenbar ganz genau in Respektspersonen und Respektspersonen respektierende Personen eingeteilt. Wenn die Frau Gelautz der Großmutter verkündet, daß ihre Tochter unmusikalisch ist, dann ist die Tochter unmusikalisch, und die Großmutter und die Tochter haben sich mit dieser diagnostischen Tatsache gefälligst abzufinden, und sie haben sich auch gefälligst damit abgefunden. Wenn die Tochter unmusikalisch und daher für die Volksschullehrerinnenausbildung ungeeignet und untauglich ist, muß sie eben einen anderen Beruf erlernen, in dem man keine Instrumente spielen können muß, wenn sie schon partout einen Beruf erlernen will. Die Tochter hat überaus froh und dankbar und überglücklich sein müssen, daß sie überhaupt in eine Lehr gehen darf, denn die Großmutter hat sich die Lehre vom Mund absparen müssen. Noch die Großmutter hat überhaupt keine Lehre machen können, weil sich die Urgroßmutter eine Lehre nicht hat leisten können. Berufsextrawürste hat es keine gegeben. Der Wiederaufbau hat kein Verständnis für persönliche Selbstverwirklichungsschnapsideen gehabt. So war das damals. (S. 65ff.)
(c) 1998, Edition Atelier, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.