Dann kam am Freitag Herr von Ficker. Sein Besuch, der mir noch ganz lebendig in der Erinnerung ist, war mir mehr als willkommen. Von meiner jetzigen Sicht aus muß ich sagen, daß die Begegnung mit diesem außergewöhnlichen Menschen eine Art Wendepunkt in meinem Leben bedeutet hat.
Ludwig von Ficker - er wirkte zuerst fast scheu, ein höflicher, behutsam seine Worte wählender Herr, etwa im Alter meines Gustls. Ein Gelehrtenkopf, gewelltes Haar, hohe Stirn, klare Augen hinter einer randlosen Brille, ziemlich schmale Lippen. Er wußte, vielleicht besonders sensibel durch die Trauer über den Verlust seines jüngeren Freundes, mit seiner vornehmen Art und zurückhaltenden Aufrichtigkeit in kürzester Zeit den richtigen Weg zu mir zu finden - als ob wir uns schon lange gekannt hätten. Was er gleich am Anfang zu mir sagte, berührte mich zutiefst: "Frau Trakl, Ihr Sohn war ein großer Dichter, ein Künstler, dessen Ruhm uns alle überleben wird. Er hat in seinem kurzen Leben ein unvergängliches Werk geschaffen, ein ganz einmaliges. Wie wertvoll es ist, verstehen jetzt nur wenige. Später wird das anders werden, davon bin ich überzeugt!"
So hatte noch nie jemand mit mir über meinen Schorschl geredet. Mit soviel Respekt und Ehrfurcht. Ich hatte wohl manchmal geahnt, daß wie Georg nicht gerecht wurden, waß wir ihn falsch beurteilten - aber wie hätten wir, seine Familien, verstehen können, wer er wirklich war?
(S. 211f.)
© 2003, Stroemfeld, Frankfurt am Main, Basel.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.