Laudatio von Josef Winkler auf Esther Dischereit gehalten am 29. November 2009 im Literaturhaus Wien
erstmals veröffentlicht im ALBUM des "STANDARD" vom 28./29.11.2009
Poetologische Reisenotizen beim Lesen des Gedichtbandes "Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten" von Esther Dischereit auf der Fahrt durch Kroatien "Ich höre / zwischen breiten Hüften / eure Töne / manchmal / meine Stimmen / werde schön / so schejn / daß es mir weint"
Esther Dischereit, "als mir mein golem öffnete"
Ja, so hatte ich es mir vorgestellt und nicht anders, schon seit Wochen hatte ich es mir genauso vorgestellt, diese Geschichte werde ich auf der Fahrt durch Kroatien schreiben, nicht an meinem Schreibtisch oder woanders, und ich fuhr dann auch tatsächlich mit den Gedichten von Esther Dischereit von Klagenfurt über Villach nach Ljubljana und von dort weiter nach Kroatien, in die Küstenstadt Rijeka, ich war zu Vorlesungen in mehreren Städten Kroatiens eingeladen. Während ich in der Gedichtsammlung Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten die Zeilen las: "Ich blättere in einem gefrorenen Buch. / Die Wörter wollen nicht herauskommen / So daß ich sie behauche / ein wenig reibe, da, wo sie in der Tiefe liegen / Sie schimmern durch ihren gläsernen Sarg / Wenn ich sie in den Mund nehme / reißen sich meine Lippen an ihnen auf / bis sie rot und warm verquollen sind / dann schließlich kann ich die Wörter / essen" , schob sich ein Schneehügel aus meinem Heimatdorf zwischen die Gedichtzeilen, ein Schneehügel, auf dem wir den frischen Neuschnee niederbrettelten und mit Haselnussruten eine Slalomstrecke aussteckten, auf einem Hügel, auf dem an einem Sommertag Kinder einer Bauernfamilie mit dem Traktor gefahren waren, wobei der Traktor umkippte und ein neben dem Lenker sitzendes sechsjähriges Kind unter sich begrub, seinen Brustkorb zerquetschte, sodass die von den überlebenden Kindern herbeigerufene, zuerst über das Stoppelfeld und schließlich über den steilen Hügel eilende Mutter den Leichnam ihres Sohnes unter dem Sitz des umgekippten Traktors hervorzerren musste und mit dem toten Kind in den Armen als wandelnde Pietà über den Steilhang hinauf, dabei laut das "Vaterunser" und das "Schutzengelmein" betend, zum Bauernhof ging.
Im Zug von Ljubljana nach Rijeka sitzend, immer wieder mit zusammengekniffenen Augenlidern aus dem Fenster schauend, lese ich weiter im Gedichtband Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten von Esther Dischereit, die Zeilen: "Ich kaufte mir deine Blumen / verstreute sie in das Haus / belegten Stühle und Räume / dann kämmte ich dir / neun Haare aus / die trag ich als Sichel / unter dem Hemd / bis mir die Haut verbrennt" , und sehe wieder und wieder diese wandelnde, einmal, zweimal auf dem Hügel zusammenbrechende Pietà vor mir, die Mutter mit ihrem toten Kind in den Armen, ehe sie mit aufgeschundenen Knien ankommt auf dem Bauernhof und den Jungen in der Küche auf den Diwan legt, umringt von den schreienden und weinenden Geschwistern, und auf den Bestatter Stimniker mit seinem schwarzen Mercedes mit den Milchglasfensterscheiben wartet, den "Leichenwagen" , wie wir ihn nannten, den Stimniker, der mit einer Zigarre zwischen seinen bläulichen Lippen mutterseelenallein einen weißen Kindersarg ins Totenhaus trägt, denn der ist ja nicht groß und nicht schwer und dazu auch noch leer, den Stimniker, der in einem Zimmer im ersten Stock des Bauernhauses einen Katafalk aufbaut, auf dem man den Sarg mit dem Kind, das zuvor gesäubert, in seinen Sonntagsanzug gekleidet und frisiert worden ist, gehoben hat, als die Mutter mit aschfahlem Gesicht und eingefallenen Wangen längst schon die Haare des Kindes als Sicheln unter ihrem Hemd trägt, um ein Wort von Esther Dischereit aus dem Gedichtband Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten zu verwenden.
Immer wieder soll die Szegedinergulasch kochende, in schwarze Kleider eingehüllte Mutter ins Aufbahrungszimmer gegangen sein zu ihrem im Sarg liegenden, kleinen, mit roten, gelben und weißen Rosen halb zugedeckten Jungen und soll ihm mit einem Tuch, da der umgefallene Traktor Brustkorb und Lunge zerquetscht hat, den austretenden Schaum vom Mund gewischt haben. "Ich möcht' ein / weißes glattes, / heiß gebügelt / feines Taschentuch / benutzen" , heißt es in der Gedichtsammlung .
Ja, heiß gebügelt und mustergültig glatt soll das Taschentuch sein, denke ich, weiter in den Gedichten von Esther Dischereit lesend, auf der Zugfahrt von Ljubljana nach Rijeka, wo ich es nicht verhindern kann und schon gar nicht verhindern will, dass dieser schwarze Bilderreigen weiter seinen Lauf nimmt und ich im selben Zimmer, in dem der vom umgefallenen Traktor zerquetschte Junge im weißen Kindersarg liegt, den aufgebahrten Halbbruder dieses Kindes vor mir sehe, der, mit einem Loch im Herzen auf die Welt gekommen und, da er nur der Halbbruder war, abgeschoben auf einen verwandtschaftlichen Bauernhof in meinem Heimatdorf, als junger Maurer an einem heißen Sommertag nach der Arbeit die mit Kalk bespritzte blaue Arbeitsmontur abstreifte und in einen kleinen See sprang zwischen die rosaroten und weißen Seerosen, die er mit seinem Gewicht mit in die Tiefe zog, und nicht mehr lebendig auftauchte, obwohl er sich noch krampfhaft festgehalten hatte an den Füßen seines ebenfalls im See badenden gleichaltrigen Arbeitskollegen, der sich losstrampeln musste von den hilfesuchenden Armen des Ertrinkenden, um nicht mit in die Tiefe gezogen zu werden, und dann im selben Zimmer aufgebahrt wurde, in dem in einem weißen Sarg sein Halbbruder mit dem zerquetschten Brustkorb lag.
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