Leseprobe:
Wenn sie zusammen waren, erwachte das Leben. Sie konnten wieder staunen und erkundeten ihre Gedanken und Körper mit einer solchen Zartheit und Dringlichkeit, dass sie manchmal innehielten und sich wunderten, dass sie atmeten. Vielleicht hätten sie sich für einen Moment das Aussetzen des Atems gewünscht, gemeinsam in die Innigkeit zu entgleiten. Mit dem Rücken zur Wand saßen sie am Abgrund der Wirklichkeit, gegen die sie sich mit aller Macht stemmten und der sie nichts entgegenzusetzen hatten.
Sie verstanden, dass nicht nur das Tosen der Welt gegen sie war, sondern auch die Zeit. Sie verpackten in Minuten, was sie in Stunden auskosten wollten, verschnürten ihre Gefühle zu Päckchen, Happen gleich, die sie bloß vor dem Verhungern bewahrten.
Die Grenzen des Gewohnten hoben sie auf, sie nahmen es auseinander und setzten es neu zusammen. Schnittmengen genügten ihnen nicht, sie wollten Deckungsgleichheit, sich mit Stimmen und Gesten ununterscheidbar vermengen.
Sie mussten sich nicht erklären, es gab keine verborgenen Türen, und von den Abgründen wussten sie längst. Sie kannten den nächsten Schritt und den übernächsten, sie überschauten die komplizierte Abfolge, das Straucheln und Stolpern, das Tänzeln und Schweben.
Sie erschufen sich ihre Sprache und ein Wort war mehr als ein Wort, es barg Sätze und ganze Geschichten.
Sie konnten ein Beginnen denken, aber kein Enden.
Sie waren nicht namenlos, sie hatten eine Geschichte.
(S. 22-23)
© 2020 Braumüller Verlag, Wien