Das gesüßte Leben auf Bromsilberkarten von 1895 bis 1920.
Köln: Böhlau 2014.
Geb.; 320 S.; über 2000 farb. Abb., inkl. 1 Original; € 59.90.
ISBN 978-3-412-22432-5.
In Österreich wurde die „Correspondenz-Karte“ in normierter Größe (85 x 122 mm) am 1. Oktober 1869 eingeführt, 1870 folgten Deutschland, die Schweiz, Luxemburg und Großbritannien, 1871 weitere Länder in Europa und Übersee. Sie rationalisierten und verkürzten die Kommunikationswege und -stile, Teile der Informationen waren eingedruckt, weshalb sie der Herausgeber als „SMS/MMS avant la lettre“ interpretiert.
Ab 1872 waren privatwirtschaftlich produzierte Karten zugelassen. Der aufwändig gestalteten Band mit Samteinband, Goldprägung und einer eingeschnittenen Originalpostkarte mit Neujahrswünschen präsentiert mehr als 2.000 dieser Bromsilberpostkarten, geordnet nach Anlässen und Themen und zum Teil in serieller Anordnung, was ihrer Produktionsweisen wie ihrer Verbreitung entspricht. Aus Kostengründen wurden die Karten bald in Serien von 6 Stück hergestellt und entwickelten rasch eine Qualität als Sammelobjekt. Der Durchbruch setzte 1880 ein mit der erfolgreichen Neuen Photographischen Gesellschaft in Berlin-Steglitz, als neue Drucktechniken die Herstellung verbilligten. 1899 wurden im deutschsprachigen Raum etwa 88 Millionen fotografische Karten produziert, insgesamt dürften in den Goldenen Jahren der Bromsilberpostkarte zwischen 1895 und 1920 gegen 10 Milliarden verschickt worden sein, wobei etwa 10 Prozent der Produktion nicht postalisch gelaufen ist. Eine Serie von sechs Karten kostete zwischen 20 (unkoloriert) und 35 (koloriert) Pfennige, das entsprach ungefähr dem Preis von einem Kilo Brot.
Mit der Steigerung der Produktion wurden Seriennummern vergeben, die in den Musterkatalogen als Bestellcode fungierten. Ab 1903 wurden auch Verlagssiglen einkopiert. Die Firmen unterhielten eigene Fotostudios, beschäftigten aber auch spezialisierte Ateliers, die Musterkollektionen via Agenten an die Verlage brachten, weshalb idente Modelle und Sujets bei verschiedenen Verlagen auftauchen.
Verfahrenstechnisch waren die Karten durchaus Prinzipien der Moderne verpflichtet. Sie arbeiten mit Techniken der Collage und Montage, mit Bild im Bild-Effekten und Doppelbelichtung. Auch die Schriftelemente wurden sehr unterschiedlich eingesetzt, mitunter in wechselnden Arrangements und unterschiedlicher Typografie über ein und dasselbe Sujet gelegt. Die technischen Verfahrensweisen der Kitschpostkarte, so der Herausgeber, sei für die KünstlerInnen um 1900 durchaus eine Inspirationsquelle gewesen.
Was die eingesetzten Bildwerte betrifft, orientierte sich die Produktion hingegen am Stil der Gartenlaube-Illustrationen. Alle Fotos entstanden im Atelier vor einem künstlich aufgebauten und aufgemalten Hintergrund, der die fehlende Natur mit künstlich überhöhter Natürlichkeit zu überdecken suchte. Die inszenierte (Natur)Kulisse mit holzhammerartig eingesetzten Requisiten kippte – verstärkt durch die Effekte der Kolorierung – ins Kitschig-Süßliche. Die „Bilderwelt der Bromsilberpostkarte“ summiere „das populäre Leben oder Denken des 19. Jahrhunderts“, so der Herausgeber, oder zumindest die Sehnsuchtsbilder einer verlorenen heilen Welt, die man sich mit der neuen Technik massenweise re-produzieren ließ.
Bieder aber massentauglich waren auch die Anlasscluster: Ereignisse im Einzelleben (Geburts- und Namenstag, Schulanfang, Hochzeit, Tod), wiederkehrende Ereignisse im Jahreslauf (Weihnachten, Neujahr, Ostern) oder Themenfelder wie Glaube/Liebe/Hoffnung, Essen/Trinken, Lieder/Tanz, häusliche Arbeit, Blumen/Rosen, Engel, Mode oder spezifische Sujets wie Teddybären, Postboten und Kindermilitaria. Insgesamt nutzten rund ein Viertel aller Karten Kindersujets.
Auf Erotika im engeren Sinn hat der Herausgeber verzichtet, das würde „den Fokus falsch legen“. Erotisch aufgeladen sind freilich viele der Bilder mit überwiegend weiblichen Models – Männer kommen mit Ausnahme der Kriegsbilder allenfalls in mehr minder pikanten Paarkonstellationen vor –, die arakadische Szenen und Allegorien ebenso umsetzen wie Motive aus Märchen und Mythologie oder literarische Figuren. Besonders beliebt war Goethes Mignon, bekannt sind mindestens 250 Serien, und ihr Lied, „Kennst du das Land wo die Zitronen blühen“ „wird zum Schmachtfetzen“. Das ist der Wermutstropfen des Bandes: Die beiden zwischen die Bildseiten eingeschobenen schmalen Erläuterungsteile des Herausgebers enthalten eine Fülle interessanter Informationen, wirken aber ein wenig inhomogen und sind in einer etwas eigenwilligen Sprache gehalten. Schade dass hier der Verlag nicht lektorierend einiges korrigiert hat.
Interessant ist der hier zur Verfügung gestellte Fundus gerade auch für die österreichische Literatur mit Blick auf Peter Altenberg. Ricarda Dick hat bereits 2009 in ihrer Analyse seiner beiden Alben von 1915/16 und 1917/18 – unter Ausschaltung moralischer Fragen, was die Kinderpornografica und die Haltung zum Krieg betrifft – Altenbergs eher konventionellen Zugang zu den einmontierten Bildsujets aufgezeigt. Zeitgenössischen Diskursen über das neue Medium Bildpostkarte stand er völlig fern. Altenbergs eigenwillige Begrifflichkeit von Natur/Natürlichkeit und Kunst/Künstlichkeit freilich hat in der Massenproduktion der Bromsilberpostkarten eine direkte Entsprechung – bzw. scheint zu einem Teil direkt aus diesen Bildwelten heraus entstanden. Wie nahe Altenberg der „endlosen Unterwelt des populären Kitsches" (Willy Haas) steht, zeigen seine Bildbeschriftungen; wo sie nicht autobiografische Bezüge herstellen oder sich auf seinen Namenszug beschränken, setzen sie die abgebildeten Stimmungswerte gerne intentionsgemäß um und unterscheiden sich dann nicht von jenen, die von den Herstellern oft selbst aufgedruckt wurden. Dass Altenbergs Alben weniger von Originalität zeugen als von einer unreflektierten Nähe zur trivialen Bildproduktion seiner Zeit, lässt sich mit dem Fundus des hier vorgelegten Bildmaterials weiter untermauern.
(red)
18. Dezember 2014