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Im Figurenkabinett der Romane von Anita Augustin

Wir müssen über Jürgen reden. Jürgen ist ein Verführer, ein Tyrann, ein Monster, ein Unhold, ein Größenwahnsinniger, ein Messias. Jürgen ist ein gefallener Engel, der sich die Herrschaft über Leben und Tod anmaßt. Ein Zwerg, der Gott versucht.

„Der Mensch nämlich ist das grausamste Tier. Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden“. Das Zitat von Nietzsche erscheint eingeblendet in Madonnas neuem Video „Living for Love“, in dem sie mit einem behörnten Männerballett tanzt.

Dieses Zitat passt auch gut auf Jürgen. Der kleinwüchsige Mann, immer in schwarzen Klamotten, ist die heimliche Hauptfigur in Anita Augustins zweitem Roman „Alles Amok“. Jürgen ist eine mephistophelische Kunstfigur in einem schrillen Panoptikum, er ist irre, er ist grausam, er ist von einer destruktiven Vision besessen. Und er ist ein Liebender. Aber ist er pervers, oder, um es mit dem schwulen Filmemacher Rosa von Praunheim zu sagen, ist es die Gesellschaft, in der er lebt? Die ihm zum Leben nur einen Platz in der Freakshow eines Vergnügungsparks bietet?

Dieser letzte Ort heißt „Paradies“ und ist eine Kitschversion der Hölle. Und Jürgen ist der Zeremonienmeister des Infernos. Doch bevor sich das zusammen brauen kann, sammelt der charismatische Zampano erst Mal eine Hand voll schillernder Außenseiter zum Casting ein. Denn die „Wuzzipuzzi-Spaßwelt“ des Freizeitparks mit Themen-Fuhrpark, Engeln, Geisterbahn, Eden-Express und einem Kettenkarussell am gigantischen „Baum der Freiheit“ hat Stellen frei in ihrer gruseligen Rocky-Horror-Picture-Show und in den Tierkostümen der Arche Noah. Der Orwell’sche Paradies-Park, (der heute „The Circle“ hieße und im Silicon Valley sein könne) verspricht nicht nur dem Publikum alles Erdenkliche an Glück, Verzauberung und Unterhaltung, er bietet auch den zur Arbeit Auserwählten ein Sorglospaket aus Lohn, Brot und Wohnraum. Zur Rundum-Versorgung mit Arbeit und Sinn gibt es Totalüberwachung, Religionsersatz und die Illusion der Selbstverwirklichung. Jeder Tag beginnt mit einer morgendlichen Hirnspülung im Lotossitz durch Mentaltrainerin Ramona: Stalinistisch-maoistischer Selbstbezichtigungsterror in Form von GfK (Gewalt freie Kommunikation) wechselt sich ab mit dem meditativem Atemübungsmantra „Bangaschrapna, Bangaschrupna“, bis alles Resthirn zur Vollverblödung entspannt. Das tut Not, denn die moderne Vergnügungsindustrie fordert bald das Übermenschliche von den gerade erst dem Jammertal ihrer allerweltlichsten Existenz entsprungenen Verlierern. Paul, der als Penner und Alkoholiker schon früher gerne Flaschen mit den Zähnen entkront hat und Scherben zerkaute, darf sich nun in „autoerotischer Folter“ dekorativ kasteien und mit Stacheldraht verletzen zu Bachchorälen („Wann wird sie enden, diese Pein? Wenn Gott nicht mehr wird ewig sein!“). Jürgen spielt den Dompteur mit der Peitsche. „Interaktion“, das bedeutet, dass seine Freaks sich nun den niedrigsten und gewalttätigsten Gelüsten des Publikums aussetzen müssen. Ein Schelm, der da nicht an die Obszönitäten des Reality-Fernsehens und unseres „zusehends“ abgebrühten Voyeurismus denkt. Doch was die gebürtige Klagenfurter Anita Augustin – in Wien hat sie in Philosophie promoviert - zum finalen Amokspektakel so an blutrünstigen Fantasien über die allgemeinmenschliche Grausamkeit loslässt und mit wüstem Theaterdonner abfackelt, das ist richtig kranker Hardcore. In Jürgens heimlichem Hobbykeller gibt’s nach den Vorstellungen der Freakshow dann Zuckerbrot und Peitsche, bzw. Himbeereis, Salzstangen und eine Tätowiermaschine, und für Jürgens kleines Gefolge das Gefühl, einer eingeschworenen Gemeinschaft anzugehören. Jürgens Eliteeinheit läuft hochtourig zum finalen Showdown auf. Mensch, wenn da nicht Gott, der Allmächtige, wär, der alles sieht! „Alles Amok“ ist nichts für Weicheier ... wenn da noch welche vorhanden wären.

Aber gemach. Dieser luziferische Jürgen spielt erst im zweiten Teil des Romans „Alles Amok“ die Hauptrolle. Da wo es dann richtig böse und brutal und schön trashig zur Sache geht mit infantilem Plüschtierzirkus fürs verdummte Freizeitvolk und kontrollierten Gewaltexerzitien zu seiner Triebabfuhr. Den meisten Lesern, sagt Anita Augustin gefällt dieser Teil besser. Mir nicht. Ich mag Jakob. Er spielt Freddy, das Frettchen in der Arche Noah, er ist der Favorit von Jürgen, der für ihn seidige Wimpern und ein Mädchengesicht hat, und er ist der Erzähler dieses „ganz normalen Scheißlebens“. Bevor er die Stelle im Paradies Park erhält, verdingt er sich unter dem Künstlernamen „Andi Anti“ als Leihdemonstrant auf billiger Stundenlohnbasis. Relativ entspannt ist der Job bei einer Baumbesetzung, wo er nur ein paar Stunden lang auf einem Hochsitz auszuharren braucht und bekifft über den Tod Gottes rumlabert. Andere Jobs können gefährlicher werden, es gibt da gelegentlich „subobtimale Faktoren“. Aber nie gelingt es ihm, einen Risikozuschlag durchzusetzen. Auf der Demo gegen giftverseuchtes Spielzeug beißt ihn ein Kind in seine Wade, was ihn Tage später trotz Antibiotikum-Massaker schier sterben lässt. Denn Jakob Kupka hat ein paar gravierende genetische Defekte, er braucht täglich Medikamente, monströse Dosen an Kortison, und löffelweise Salz. „Ein paar Stunden durchheulen, und ich bin tot.“ Außerdem wurde in seiner Kindheit mal an seinen Geschlechtsteilen, ja im Plural, herumoperiert. Das Böse wurde aus ihm herausgeschnitten, sagte dem neunjährigen Jungen damals die hübsche Mutter mit den brettharten Lockenwellen im Haar, in die der Wind fuhr. Schon da wusste sie, dass es schief gehen würde und ihr „tapferer kleiner Jesusjunge“ Schaden nehmen wird. Sie kaufte ihm ein Himbeer-Zitroneneis. Und hat es doch nur gut gemeint.

Nun aber verdämmert die Mutter längst im Heim (davon ein ander Mal ...), und Jakob, der „ganz normale Typ“, der sein verstümmeltes Scheißleben nicht geregelt kriegt, der zahlt dafür jeden Monat inklusive Friseur, und zählt die Jahre, acht schon, die er auf ihren Tod hofft - und auf einen sicheren Arbeitsplatz. Mit solchen Leit-Sätzen fangen die Kapitel an, nach Wochentagen sortiert und durchnummeriert, was eine Ordnung suggerieren soll, die das Ungeheuerliche rahmt wie der Veilchenschnörkel im Poesiealbum die Todesanzeige. Der Job am Bahnhof, wo Andi Anti für entwürdigende 6,50 pro Stunde einem Grüppchen Randale suchender „Antifas“ mit schwarzen Sturmhauben dabei helfen sollte, irgendwelche Neonazis zu Klump zu hauen, ging übrigens gerade noch mal gut aus. Als Jakob der Überwachungskamera gewahr wurde, die sein Gesicht so scharf „wie der Arsch“ der Frau seines Auftraggebers erfassen würde - „Gott sieht dich, Jakob!“ - rannte er los, kam davon, oder halt, wer stand ihm da im Weg? Ein kleiner Mann in schwarz, der was davon munkelte, dass man auch mit Fremden Spaß an der Gewalt haben könnte? Klar, Jürgen.

Aber das ahnen wir hier erst bloß. Die Hölle, die ist erst mal ganz irdisch. Im Billigkleidungsdiscounter HA&EM verursachen die vergifteten Textilien der armen Schwuchtel Herbert einen chronischen Hautausschlag mit teuflisch juckenden Pusteln. Im Vergleich dazu ist Jakobs „verblödeter Job“ mit den „bescheuerten Kunden“ das Paradies. Zum Anwärmen für den kommenden Horror dürfen wir uns amüsieren über Wortschöpfungen aus dem Dadaismus des Gewöhnlichen, uns mit „Gewaltmanagement und Deeskalationsservice“ anfreunden, und Jakobs Clique der Gescheiterten kennen lernen.

Gleich in der Wohnung nebenan etwa lebt Babsi. Die „diplomierte Bodystretchtrainerin“ arbeitet in der Kneipe „Loch Nass“ und träumt vom besseren Leben. Auf den Fotos, die Jakob seiner Mutter ins Heim schickt als fingierten Beleg für sein erfolgreiches Beziehungsleben, mimt sie in Wohnzimmern eines bekannten Möbelhauses seine Freundin. Babsi macht sich Hoffnungen, dass wirklich mal was draus wird mit Jakob. Wie vergeblich das bei seinen verpfuschten Geschlechtsorganen ist, kann sie, ein „Blondinenwitz ohne Pointe“, ja nicht wissen. Sie wirft ihm Küsschen zu, bei denen sich ihr Mund wie ein „Hühnerarsch“ zusammenzieht, und sie schenkt Jakob einen Ratgeber zur psychischen Selbstoptimierung: Positiv denken – das Übungsbuch für Einsteiger. Was Jakob zu köstlich abstrusen Dialogen mit seinem Spiegelbild führt. Neben dem liebeskranken Herbert mit seinem Hautausschlag und Paul, dem lebensweisen Flaschensammler mit Schlafzimmer im Park, gibt es noch Sigi, einen flächendeckend tätowierten Aufpasser in einem Supermarkt, in dem Jakob sein Frühstück aus Parmaschinken und Himbeerjoghurtdrinks direkt aus dem Regal verzehrt. Das Mittagessen spendiert Jakob der nordkoreanische Dichter Dongbang. Der verkauft Bratwürste von einem Umhängebrutzler, unter dessen Last er fast umzufallen droht. „Gott hat das Gleichgewicht erfunden, damit wir es verlieren können.“ Dongbang dichtet herzergreifend und grottenschlecht, um seinen von der Mutter geblendeten Zwillingsbruder einmal aus Pjöngjang befreien zu können. Jakob soll sein Deutsch korrigieren, aber er verrät den Freund, indem er die gutgemeinte Lüge mit einer anderen toppt. Denn Gott hat auch den Schatten erfunden, damit wir nicht geblendet werden vom Licht am Ende des Tunnels. „Wir nennen diesen Schatten: Keine Chance. Wir nennen diesen Schatten: Es hört nie auf. Wir nennen ihn: Ich kann nicht mehr.“

Es ist verführerisch, dem Schillern einzelner Sätze, der schrägen Komik einzelner Bilder, der pointierten Treffsicherheit einiger Charaktermasken zu erliegen. Aber hinter der vorgeblich lapidaren Leichtigkeit des Textes verbirgt sich eine feinziselierte Struktur, hinter der Metaphernkanonade eine Ökonomie der Effektivität. Wie in einem Drehbuch ist jedes Detail wichtig, wo ein Pistole herumliegt, wird geschossen werden, wo ein Himbeer-Zitronen-Eis gelöffelt wird, gibt es Flecken und nicht nur auf der Hose. „Schmerzensreiches Jesulein, ich danke dir, das Eis war fein.“ Wo das Söhnchen Gottes angerufen wird, da wird es Strafen geben. Oder Erlösung. Ich kenne mich da nicht so gut aus. Jakob schon. In Babsis Spelunke singt Freddie Mercury „Another one bites the dust“. Wo Zauberstaub ist, da sieht Gott alles.

In The Gap, einer online Publikation, hat Anita Augustin jüngst eine Kurzgeschichte veröffentlicht. Sie handelt von einem scheinbar harmlosen jungen Langweiler, der als Sachbearbeiter in der Behörde für Meldeangelegenheiten arbeitet. Seine Mutter hat ihn abgöttisch geliebt und ihn ihr Jesulein genannt. Nach Feierabend verwandelt der junge Mann sich zu einem teuflischen Quälgeist im Priestergewand mit weiten Glockenärmeln, der alleinstehende Mütter zu Tode erschreckt, indem er ihnen falsche Todesmeldungen ihrer Kinder überbringt - und sich als Tröster anbietet.

Wir treffen uns in einer Kreuzberger Eckkneipe. Kerzen stehen auf den Tischen. Das schummrige Licht schmeichelt uns. Aber launige Konversation ist nicht ihr Ding. Anita Augustin trinkt Sekt auf Eis und kommt ohne Umschweife zu den existentiellen Themen. Noch bevor ich meine virtuellen Interviewkärtchen aus dem Beutel gezogen habe, stellt sie die Millionenfragen. Wenn du nur einen einzigen Wunsch offen hättest? Wenn du die Karten noch einmal neu mischen dürftest? Umstandslos zitiert sie Nietzsches Ecce Homo: „Wie man wird, was man ist“ und landet bei Georg Lukács „metaphysischer oder transzendentaler Obdachlosigkeit“. (Als ich das nebenher nachgoogle, lande ich sofort auf der Onlineplattform einer rechtspopulistischen Bewegung, die gerade – ohne Wissen oder gar Zustimmung des Schriftstellers – einen Houellebecq-Preis ausgelobt hat. Ist die Wirklichkeit schon so nah an Jürgens abgedrehter Weltsicht und seinen daraus resultierenden Amokfantasien? Ersetzen die  algorithmischen Treffer des Internets jetzt schon mein paranoides Unterbewusstsein? Wie Houellebecq lehnt übrigens auch Anita Augustin die Verantwortung für ihre Figuren ab.)

Beim Birnenschnaps hole ich die angeschimmelten Einmachgläser aus meinen Biografieregalen hervor.Vielleicht liegt im entwaffnenden Interesse, das Anita Augustin selbst für meine Leichen im Keller aufbringt, das Geheimnis, wie sie auf ihre im wörtlichen Sinne „wahnwitzigen“ Romanfiguren kommt. Eine vorurteilslose Lust am Zuhören und eine Freude am messerscharfen Beobachten – komplettiert durch die Kunst des zugespitzten Fabulierens – dürfte zumindest eine Voraussetzung für die Ausmalung eines so überrealen Figurenarsenals sein. Oder kann man sich so was einfach ausdenken?

Zum Glück verschont Augustin uns mit feingeistiger Psychologie und pastellfarbenen Seelenhintergründen, statt Empfindsamkeitsprosa bekommen wir handfeste Dialoge, schnelle Sätze und scharfe Pointen. Die Figuren sind so präsent, so knallchargig anschaulich und von körperlicher Gegenwärtigkeit strotzend, sie brauchen keine Legenden. Das ist höchst bühnentauglich und natürlich ist das kein Zufall. Schließlich arbeitet Anita Augustin seit Jahren erfolgreich als inzwischen freie Dramaturgin an vielen renommierten deutschsprachigen Theatern. Pragmatischerweise hat sie auch ein Diplom der ersten Österreichischen Barkeeperschule absolviert. Mit dieser schubladenlos unterhaltsamen Literatur, ihren temporeichen Ideen, schrägen Geschichten und verzweifelten Helden, so schillernd und bös wie aus B-Pictures oder von Hinterhofbühnen, reiht sich Anita Augustin auch in eine Reihe neuer deutschsprachiger Autorinnen, die extrem, radikal und formal souverän über gesellschaftlich entscheidende Themen und wesentliche Inhalte schreiben. Ihre Sprache ist geschliffen wie ein gutes Tranchiermesser, das seine Funktion wie nebenbei erfüllt: Das Literarische ist kein Selbstzweck, es dient dazu, Geschichten so zu erzählen, dass sie uns einfangen, festhalten, bannen – indem sie uns etwas über unsere Gesellschaft und unser Leben sagen. Und nicht nur etwas über das der Autorin. Das hierzulande nahezu ungewöhnliche (in großer Weltliteratur freilich normale) ist: die  schrägen Helden Augustins kommen aus dem Prekariat. Größe, Verzweiflung, Sinnverlust und Gewaltfantasien gibt’s auch in der Unterschicht. Babsi, Helmut, Sigi und Paul kommen vom unteren Rand der Klassengesellschaft, und da ist das Leben „klein, grau, und beschissen“. Das Paradies ist ein fauler Zauber und das Licht am Ende des Tunnels fackelt in Jürgens apokalyptisch explosivem Destruktionsfeuerwerk ab.

Aber immerhin, die Verzweiflung hat ein Ziel, eine Zukunft. Zerstörung ist eine Perspektive. Die gibt es für das Personal aus Augustins furiosem Debütroman nicht. In „Der Zwerg reinigt den Kittel“ ist ein Altersheim die Bühne für ihre böse Sozialsatire. Da ist Endstation und deshalb hat der Tunnel gar kein Ende mehr. Da kommt nichts mehr außer ewige Dunkelheit und Umnachtung. Da ist auch kein Gott im Spiel, in dessen Hand man fallen könnte, sofern er keine Faust ballt.

Die Protagonisten sind vier Frauen. Almut Block, langjährige Garderobiere in einem Musicaltheater, ist plötzlich Rentnerin. Niemand braucht sie mehr. Ihr Leben war schon „verkackt“ genug, nun aber erwartet die depressive Kettenraucherin nur noch Streichkäse und Knäckebrot aus dem Discounter. Da, so ein Zufall, ruft Karlotta an, ihre Jugendfreundin. Der ist auch langweilig und wegen innerer Leere wär jetzt ein Krieg ganz nett. Gemäß dem Klappentextmotto: „Wer Gewalt sät, wird Spaß ernten“. Killerkarlotta, wie sie früher genannt wurde, hat auch schon einen Plan: Bescheißen wir die Krankenkasse! Machen wir einen auf dement, simulieren 1A-gebrechlich, kassieren Pflegestufe 2 und ziehen zusammen ins Altersheim. Flugs werden die zwei anderen Kumpaninnen aus der fernen Jugendzeit zum Strategietreffen einbestellt. Runzlig sind sie geworden die vier, aber sie machen noch schwer was her. Marlene sieht aus wie ein nuttig angemalter Leguan, Suzanne ist ein verfetteter Wal auf Stelzen geworden und Karlotta mit ihrem Silberbürstenhaarschnitt gibt den verschrumpelten Kampfzwerg. Ihre Stimme könnte man „als Massenvernichtungswaffe an Schurkenstaaten verkaufen“.

Und so geht das in einem fort.

Wie auf Fahndungsfotos für Jürgens Casting hat man das Geschwader der faltigen Damen klar vor Augen: Die Brüste „schrumpelige Birnen“ oder „Auberginen aus ökologischem Anbau“, die Füße schwer „wie ein Sack ertränkter Katzenbabys“, die Hände „Rorschachtests aus Gemüseklecksen“ oder „plattgewalzte Kröten“. Bereits in dieser irren Komödie über Altersarmut, Erinnerungsfallen und die Tücken, sich im „Hinterland der Gesellschaft“ ein warmes Plätzchen zu sichern, spart Augustin nicht an hundsgemeinen Kalauern, Metaphernbombardements und der noblen Tristesse von Lebensweisheiten, die weh tun vor lauter Banalität. Augustins böse Komik kippelt immer haarscharf an der Grenze zwischen Klamauk und Groteske. Sie schliddert mit schadenfrohem Gejohle in den schnoddrigsten Sprachwitz und stürzt sich voll Pathosgeheul ins abgründigste und finsterste Jammertal. Dorthin, wo es weh tut. Wo die Angst sitzt. Und der begegnet man immer noch am besten mit Gelächter. Zum Mittagessen gibt's Huhn und Vivaldi, beides als Geschnetzeltes.

Der tolle Plan der Viererbande vom lustigen Lebensabend mit Vollpension und Dienstpersonal auf Krankenkassenkosten geht natürlich nicht so einfach auf. Auch hier hat das „Paradies“ seinen herben Preis. Als wäre die Vorgaukelung der Debilität nicht schon schwierig genug, müssen auch noch die anderen Zombies der Endlagerstätte ertragen werden. Da hat sich die Essenz eines ganzen Lebens als Arrangement aus Partybaum, Serviettenneger und pyramidaler Duftkerze auf der Kommode minimalisiert oder ist in blauen Müllsäcken unter dem Bett gehortet. Eine rauchende Gräfin organisiert täglich ihre Seebestattung und kann sich jeden Tag von neuem nicht für das Blumengesteck entscheiden. Ein Professor forscht „im Auftrag der Familienministerin“ über den „Gerontozid in den Weltkulturen“. Die rasante Komödie um die vier rebellischen Rentnerinnen im Kampf mit dem Vergessen, der Schuld und dem verwalteten Sterben dreht mit einer heimtückischen Pointe noch eine fatale Runde weiter. Um den „beschissenen Seniorenteller“ vollzumachen, taucht die Familienministerin mit einem „Reformprojekt“ auf, in dem die Alten das „Recht auf Pflicht“ bekommen. In jedem schönen Bild lauert hier eine Falle, jedes Bonmot ist eine Mine, jeder Witz ein Hinterhalt.

Auch in diesem abgründig komischen Kammerspiel überspringt Anita Augustin mit Leichtigkeit die Grenzen der literarischen Genres und des „guten“ Geschmacks. Und wie in Jürgens realsatirischer Paradies-Park-Apokalypse fragt man sich, ob man diese irren Szenarien und Horrorvisionen einfach so erfinden kann. Der sterbende Schwan als Rollstuhlballett, die Windel mit Klettverschluss oder Premium-Komfort, „feinschlägiger Intentionstremor“, Folter durch Forellenquintett oder Zwangsbeschallung mit Madonna? Anita Augustins Erzähl-Feuerwerke definieren die Kategorien des „Lustspiels“ neu.

© Sabine Vogel, 2015 ________________________________________________

Sabine Vogel ist Literatur-Redakteurin der „Berliner Zeitung“. Die studierte Kunsthistorikerin hat zuvor bei internationalen Biennalen in Istanbul und Johannesburg gearbeitet und Ausstellungen im Haus der Kulturen der Welt betreut. In ihrem Blog vogelperspektive berichtet Sabine Vogel von ihren Reisen u. a. nach Kambodscha, Laos und Thailand.

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