VDG: Weimar 2015.
629 Seiten; broschiert; Euro 52,-.
ISBN: 978-3-89739-799-6.
Seit Beginn seiner publizistisch-essayistischen Präsenz im Neuen Wiener Journal (NWJ), d.h. seit Dezember 1916, erschienen in regelmäßiger Folge die von Hermann Bahr verfassten Tagebuch-, Kolumnen- oder Feuilleton-Texte auch in Buchform in verschiedenen Verlagen, seit 1925 vorzugsweise bei Borgmeyer (Hildesheim). Der letzte große Bestand, der den Zeitraum 1927 bis 1931 umfasste, konnte trotz fortgeschrittener Vorverhandlungen 1932 allerdings nicht mehr erscheinen, weshalb dieser umfängliche Textfundus lange Zeit als verschollen galt, zumal die ältere Bahrforschung weder das NWJ noch andere publizistische Organe, für die Bahr in den späten 1920er Jahren regelmäßig Beiträge lieferte, wie z.B. die katholische Programmzeitschrift Schönere Zukunft, systematisch in Augenschein genommen hat.
Die Tagebuch- bzw. Briefedition beginnt anhand einer in Berlin erschienenen Johann Strauß-Briefe-Sammlung mit einer Invektive gegen Wien und schließt mit Reflexionen über Goethe. Dessen permanente Verwandlungskraft, sichtbar darin, Leben "in ein Schauspiel und Hörspiel" zu verwandeln, "das ihm Vergnügen bereitet", streicht Bahr als produktives Atout heraus, – ein Faszinosum, das wohl Bahrs unermüdliche, mitunter auch ermüdende Goethe-Gefolgschaft miterklärt. Zwischen diesen Eckdaten entfaltet sich in gut 220 Textstücken der späte Bahr in voller Breite: souverän und den Leser immer wieder frappierend dort, wo er seine Asse auszuspielen vermag wie z.B. in Reflexionen zu Goethe, Balzac, Shaw, Hofmannsthal, Ibsen oder Strindberg, ambivalent und tendenziell verwerfend, wenn er Schriftsteller auf Zeitverhältnisse (z.B. auf die "verworrene[n] ungestaltene[n] Gegenwart") zu beziehen versucht, wenn er auf Verfallssymptome zu sprechen kommt, am Rande der Peinlichkeit, wenn Bahr, wie in den 1920er Jahren zunehmend, das Steckenpferd des habsburgischen Barock-Katholizismus, seiner Welt- oder zumindest Europa-Mission oder, falls beides wenig Substanz verspricht, wenigstens ein "Wunder-Bedürfnis" zu reiten unternimmt und geradezu erschütternd, wenn er sich den Konjunktur versprechenden Themen wie Nation und Rasse annimmt und sich dabei u.a. zur Überzeugung versteigt, es gebe "zu Herrschaft bestimmte Rassen".
Auch der zeitgenössische Literaturbetrieb schien den einstigen Propheten und kritischen Mentor der Moderne schwer zu bedrücken. Fast täglich, so im März 1928, "speit mir gleich die erste Post wieder einen neuen Stoß von Romanen auf den ächzenden Tisch". Im Oktober 1929, um nur eine weitere Eintragung aufzurufen, lesen wir dann: "Massen von Romanen ersticken einander". Blickt man genauer hin, kommt freilich mancher Zweifel auf, was Bahr 1928-30 überhaupt wahrgenommen und, ausgenommen von Heinrich Manns Mutter Marie, als tröstende, "echte" Texte noch gelten ließ: Rudolf von Eichthals (Begründer des Trompetenorchesters der Bundestheater und honoriger ehemaliger k.k. Offizier) Kreuzberg oder der "so herzlich bewunderte[r] R. Siegrist" (Mitbegründer der Scheffel-Gesellschaft) mit seinem Cromwell, zu dem Bahr ein hymnisches Geleitwort beisteuerte, und zum Jahresausklang 1928 noch Dolores Viesers Das Singerlein, Texte, die nicht zu Unrecht aus dem Fokus der Forschung geraten sind. Das Jahr 1929, gemeinsam mit 1930 von den Einträgen und Texten her gesehen das ergiebigste, setzt zunächst mit einem Bekenntnis zu einem von politischen Parteien zwar abgelösten aber subkutan fast missionarisch aufgeladenen Katholizismus ein, dem Hymnen auf Oberösterreich, auf Richard Billinger, Prälat (und Exzellenz) Ignaz Seipel und Josef Nadlers Konzept der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften folgen, um vor diesem Hintergrund mehr als nur eine Lanze zu brechen für die seiner Meinung nach mächtig aufkeimende katholische (Roman-)Literatur, z.B. für Enrica von Handel-Mazzetti, Gertrud von Le Fort – ja selbst Goethe mutiert mit Bezug auf eine Faust-Stelle zu einem "Kryptokatholik". Dass dem Katho-Kult-Blatt Hochland als "unter den Zeitschriften künstlerischen Gewissens weit voran" dann eine leuchtende Leitfunktion zugesprochen wird, wundert nicht weiter, höchstens einige der Begründungen: etwa auch deshalb, weil es sich Mystifizierungen und "wunderbaren Offenbarungen" weiblicher Ikonen und Heiligenfiguren (Hildegard v. Bingen, Hl. Therese, Sainte-Roseline, Katharina Emmerich) nebst einer Aufwertung der Scholastik – "Duns Scotus nicht weniger bedeutend [] als Hegel" – angenommen habe. In diesem Kontext erhalten Anmerkungen Bahrs, z.B. jene über seine eigene "Heimkehr in unsere Kirche" oder über die Bekehrung Julius Langbehns, einst mit seinem Rembrandt-Buch Instanz für deutsch-nationalen Kulturaufbruch, auch ihr spezifisches Gewicht. Sie machen deutlich, warum ein beträchtlicher Teil seiner Aufzeichnungen sich zunehmend auf ein schmales Segment der literarisch-kulturellen Produktion der späten 1920er Jahre konzentriert hat – quer zur Wahrnehmung seiner Zeitgenossen und quer zur Literaturkritik.
Gelegentlich mischen sich geradezu laizistisch-ketzerische Fundstücke unter die Eintragungen, die dankbar entgegengenommen werden und den barock-katholischen Grundton wohltuend kontrastieren: respektvolle Anmerkungen zu Victor Adler, berührende Erinnerungen an den 1929 verstorbenen Arno Holz, anerkennende Worte über Stefan Zweigs Fouché-Roman, die Rilke-Rodin-Briefedition, die Novelle Der Magier von Bruno Frank, für Bahr überhaupt ein "Erzähler von Anmut und Würde", Conan Doyles ironische Napoleon-Zeichnung Adventures of Brigadier Gerard oder, doch überraschend, Hermynia Zur Mühlens Ende und Anfang, während ihm F. Werfels Barbara oder Die Frömmigkeit nur ein widerlicher Tendenzroman zu sein schien. Anerkennung, gemischt mit einer Portion Distanz, gilt dagegen Arthur Kahanes 1931 erschienenen mutigen wie berührenden Schrift Das Judenbuch, dem bald danach eine Würdigung des hochambivalenten Textes Zum Kampf um Hitler von Joseph Eberle, der Gallionsfigur des österreichischen politischen Katholizismus, folgte, womit die Texte ihre ungewöhnliche Spannweite und Brisanz unter Beweis stellen.
Dem Herausgeber sind wir zu Dank verpflichtet, erschließt er uns doch mit dieser auch kundig eingeleiteten Edition den späten Bahr weitgehend vollständig. Vor allem lässt er uns teilhaben an einer intellektuell-literarischen Selbstverortung, die bei aller Ambivalenz, selbst herbeigeschriebenen Engführung und mitkalkuliert wirkender Melancholie Respekt ebenso abnötigt wie neben Ärger auch Empathie zulässt: über die schwindende analytische Schärfe einer Gallionsfigur der Moderne, die, obdachlos geworden und vereinsamt, das Feld zwar nicht kampflos aufgibt, aber, einem müde gewordenen Türhüter gleich, recht glanzlos ihren Abtritt zelebriert.
Primus-Heinz Kucher
9. Dezember 2016