Leseprobe:
Manchmal halte ich inne, wenn ich die Heimatzeitung aufschlage. Wenn der Trost der bunten Blätter verweht ist, wenn es kühler wird, eine scharfe Kälte, die mir trocken vorkommt, obwohl es doch meerfeucht ist auf den New Yorker Inseln. Ich frage mich, was ich von mir denke. Die Blödigkeit ist geschrumpft, an ihrer statt macht sich eine neue Art Schlauheit in mir breit. Ich kann Weekend-Hippies von echten unterscheiden, kann sehen, wer wem in Liebe versprochen ist und wer an dieses Versprechen glaubt, wer zu welcher Weltanschauung gehört. Ich rieche gern die amerikanischen Desinfektionsmittel in den Linoleumgängen, trinke gern die zart nach Klebstoff schmeckenden Softdrinks, vermag versiert die Zubereitungsart von Frühstückseiern zu bestimmen. Ich trage noch immer die gleichen Kleider. Und doch bin ich mir vergangen. Oder neu aufgegangen?
Einerseits fühle ich mich noch als überlegener Europäer, wegen der sogenannten humanistischen Bildung, die keine wirkliche, die wirklich keine ist. Wegen meiner Fähigkeit, größere Mengen Bier zu trinken als körperlich größere Amerikaner, weil das europäische Bier stärker ist. Weil ich mit meiner Dribbelkunst die unbeweglichen Bullen hier stehenlasse.
Das muskelbetonte Football mit seinen immer neuen Abbrüchen und Anläufen ist mir zu statisch, auch wenn ich gelernt habe, es zu verstehen. Sie wollen, dass die Knochen krachen. Einen Running Back haben sie beim Homecoming-Spiel hinausgetragen, sein Gesicht war weiß, sein Unterschenkel stand vom Knie quer weg. Dass nicht mehr passiert, wenn die Hundert-Kilo-Brocken aufeinanderprallen, wundert mich. Sieht denn keiner, dass sie da den Krieg üben, Mann gegen Mann? Diese Jock-Welt ist mir zu brutal, das Grölen, diese Angewohnheit, vor dem Spiel die Köpfe zusammenzustecken und sich brüllend aufzuputschen – wozu? Können sie sich nicht konzentrieren? Gewalttätige Großmäuler, arrogante Schläger, Faustrechtler. Diese Art von All-American brauche ich nicht. Gegen den Un-American Spirit wehre ich mich kaum mehr. Er wird überall stärker. Immer mehr Menschen sehe ich, die sich anders kleiden, ihre Haare wachsen lassen, anders reden, anders über den Krieg reden. Ich könnte nicht sagen, dass mir das missfällt.
Die überwiegende Mehrheit in den Vereinigten Staaten will offenbar noch immer diesen Krieg. Auf jede Antikriegsdemo kommen vier Demonstrationen für den Krieg. »Eat shit and die, Commie Rat!«, geifern sie, schwingen chinesische Fahnen und rufen: Das ist eure Flagge! Doch die Zahl der Dissidenten nimmt zu, der Protest wird lauter. Das Konzert von Richie Havens ist ein Fanal. Wenn ich mich umschaue: Vince neigt schon zu den Dissidenten, Jay sowieso. Bruce ist ein Revoluzzer, Brooke ist Underground. Von den Lehrern sind Wilkins, zwei junge Englischassistenten und die ganze Kunstabteilung Kriegsgegner.
Richard ist eher auf der braven Seite, aber er ist wohlerzogen und hält sich zurück. Ulf ist Establishment. Die Jocks sind bis auf Vince All-American. Draft-card-Verbrenner sind in ihren Augen Hippieschwächlinge, Vaterlandsverräter und Kommunistenratten. Am College sind sie in der Mehrheit, aber nicht mehr dominant. War ich nicht zuhause irgendwie immer bei der Minderheit? Andererseits: Möchte ich eine Ratte sein? Rat heißt eines der interessanteren Underground Papers. Halte ich inne, merke ich, meine Vorstellungen und Wünsche von vor vier, fünf Monaten haben ihren Glanz verloren.
(S. 195-197)
© 2019 Carl Hanser Verlag, München