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Roman.
München: Luchterhand, 2020.
512 Seiten; geb.; EUR 22.70 (A).
ISBN: 978-3-630-87551-4.
Autor
Rezension
Leseprobe:
Ich kletterte auf den von mir aufgehäuften Schneehügel, gewiss das erste künstlich errichtete Bauwerk auf diesem Planeten. Unterdessen besann ich mich, dass ich es besser konnte, und begab mich zu einer anderen Stelle in der Nähe des Forschungsmoduls, der Schnee war dort deutlich griffiger, keinesfalls kristallin-pulvrig, er hatte bereits seine Metamorphose angetreten, am Ende würde er sich in blankes Eis verwandeln. Ich schnitt ihn mit meiner Metallschaufel in unterschiedliche Blöcke, genau so, wie ich es von Großvater gelernt hatte, wenn es darum ging, ein Iglu zu bauen, das nicht beim ersten Windhauch in sich zusammenfiel. Für die Inuit war das Iglu ein von Schwellensteinen geformter Raum, ein manuaq (...), ein Haus, das Wärme im Bauch behielt, vor allem dann, wenn man es so zu bauen verstand, dass die warme Luft nicht entweichen konnte.
Ich benötigte gut zwei Stunden für das meinige, dann war es fertig, ein vertrauter und wehmütig stimmender Anblick; ich kroch in dessen Inneres, saß eine Weile reglos in dem mir an sich vertrauten Hohlraum herum, einen Moment lang fühlte ich mich tatsächlich wie in Grönland; ich hörte die Hunde bellen und vernahm heisere Männerstimmen, die sich entfernten, die einander eine erfolgreiche Jagd wünschten. Allerlei Schritte knirschten im Schnee, das Iglu verstärkte diesen Eindruck noch, ich konnte plötzlich deutlich einen schlurfenden Gang (und einige Schleifgeräusche) wahrnehmen. Möglicherweise befand sich einer der Jäger bereits wieder auf dem Rückweg, mit einer toten Robbe im Schlepptau. Er zog ihren Körper hinter sich her, ein rotes Band verschmierte und markierte dahinter den Schnee, das Blut legte weithin erkennbare Fährten.
Ich stellte mir vor, wie die Szenerie wohl von oben aussah, dass Hunderte Jäger mit ihren erlegten Tieren weitere rote Bahnen schufen, kreuz und quer teilten diese die Eislandschaft. Ein solcher Anblick ließe sich mit blutigen Kondensstreifen am Himmel vergleichen (von irgendwelchen organischen Flugzeugen), sie durchschnitten und zierten die Wolken, Himmel und Erde hatten in meiner Fantasie kurzum ihre Plätze getauscht.
Ich weiß noch, wie sehr mich der Anblick einer aus Speckstein und Sehnen gefertigten Jagdszene in Großvaters Hütte fasziniert hatte: Ein grobschlächtiger Jäger zog dort eine tote Robbe hinter sich her, er hatte ihr ein Seil um den Körper geschlungen, die Enden fest an die Hände geknotet, mit aller Kraft stemmte er sich gegen ihr Gewicht. Das Seil, das über seine Schultern lief, schien jeden Moment reißen zu wollen, es war ein niemals endender, selbst über den Tod hinausgehender Kampf. Großvater besaß noch eine weitere, unscheinbarere Specksteinfigur: Ein Jäger saß dort mit einem rautenförmigen Heilbutt, zweifelsohne war er gerade dabei, das Tier auszunehmen, doch wirkte das Ganze auf mich, als würde er ein mir unbekanntes Instrument zupfen, einer Zither nicht unähnlich.
Ich musste mir erneut eingestehen, dass ich nicht viel über das Universum wusste, ich kannte nur das, was man mir darüber erzählt, ja was man uns irgendwann im Rahmen der Ausbildung beigebracht hatte. Doch war es mit einem selbst nicht auch so? Was wusste man schon wirklich über den eigenen Geist? Man kannte das, was einem darüber erzählt worden war, man wurde immer nur durch andere zu einem verortbaren und wahrnehmbaren Menschen, war stets eine von anderen Wesen erzählte und interpretierte Geschichte. Auf Winterthur gab es niemanden, der mir etwas über mich erzählen, der mich erkennen, der in mir lesen und mich als lebendig definieren würde. Ich war nicht einfach allein, ich war zum ersten Mal in meinem gesamten Leben nur ein von mir selbst erkennbares und interpretierbares Ereignis, ich war die letzte noch zu erzählende Geschichte der Menschheit.
(S. 70-72)
© 2020 Luchterhand, München
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