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Roman.
Wien: Czernin Verlag, 2020.
184 S.; geb.; 20 Euro.
ISBN 978-3-7076-0689-8.
Autorin
Rezension
Leseprobe:
Als ich Johanna das erste Mal begegnete, war das Erste, was mir auffiel, ihr schiefer Eckzahn. Es muss im Kirchenchor gewesen sein, an einem dieser regnerischen Tage. Meine Mutter war aus dem Dorf gezogen, und mein Vater die meiste Zeit über still. Eine Art Schatten ging mit dem Schweigen einher. Vielleicht wusste er nicht, was er mit mir anfangen sollte? Auf jeden Fall schickte er mich nachmittags meistens in die Pfarrgemeinde. Es gab nicht viele Alternativen, das Dorf war klein, gleichsam hingespuckt in die hügelige Weinlandschaft, in der immer zu viel Wind wehte. Der Eckzahn blieb mir in Erinnerung. Ich weiß noch, wie ich Johanna beobachtete. Sie riss ihren schmalen Mund auf, wenn sie sang, und sah dabei wie ein Fisch aus. Ich konnte immer wieder den Zahn sehen, der ein bisschen zu groß war, leicht hervorsprang und von einer Zahnspange gehalten wurde. Ich weiß nicht warum, aber der Zahn gefiel mir. (...)
An diesem Abend wusste ich, ich musste mich mit ihr verbünden. Ich sah ihr zu, wie sie sang, hörte ihre hohe Knabenstimme jubilieren. Ich riss meine Augen auf. Sie blickte schamhaft zu Boden. Ihre Wimpern schimmerten dunkelgolden. Ich musste lächeln.
(S. 8-9)
Die Bäume veränderten ihr Aussehen mit den Jahreszeiten, ähnelten den Gesichtern von Menschen, die manchmal weinten, manchmal lachten, manchmal ihre Augen im Sonnenlicht zusammenkniffen. Ich ging immer wieder in den Park, unter der Woche mit Birgit, an den Wochenenden mit dem Vater. Dort sammelte ich den Kies mit den Händen auf und ließ ihn durch die Finger rieseln, beguckte die wuseligen Eichhörnchen, die mir entgegenliefen. Dabei dachte ich immer nur an Johanna. Manchmal hielt ich einem eine aufgeknackte Nuss hin, die Eichhörnchen streckten dann ihre Köpfe nach vorne, ruckartig waren ihre Bewegungen. Es konnte sein, dass eines der Tiere so nahe kam, dass ich es einfangen hätte können. Aber ich war unfähig, mich zu bewegen. Wie bei Johanna. Ich hockte mich dann nieder. Legte behutsam die Walnussstückchen auf den Boden. Ähnlich wie Maroni waren die. Sie sahen aus, als wären sie kleine runzelige Gehirne. Das Eichhörnchen duckte sich flink, griff nach der Nuss, eine rasche fließende Bewegung, ein brauner Schweif, der sich vor meinem Blick davonschlängelte. Ich mochte die Farbe des Herbstes, Drachen, die über den Köpfen der Bäume in die Höhe stiegen, bunt im Wind flatterten. Jedes Blatt war eine Schatzinsel, bestand aus Mustern, Kerben, Linienläufen. Ich verlor mich mit dem Blick in den verzweigten Äderchen, sah dabei zu, wie das Laub welk wurde, sich immer mehr in sich selbst zusammenrollte und schließlich verschrumpelte. Der Wind blies mir dann die Kapuze aus dem Gesicht, die Äste der kahlen Bäume knarrten, manchmal hingen Nebelschleier über den Wiesen hinter dem Kiesweg und es begann zu schneien. Als Kind hatte ich den Schnee zu Kugeln zusammengerollt, einen Schneekopf gebaut, ihm Kieselsteinaugen eingesetzt.
"Den darfst du nicht mit heimnehmen", hatte die Mutter gesagt.
"Warum nicht?"
"Er zerschmilzt."
"Wir können ihn doch in die Gefriertruhe legen!", hatte ich gebockt.
"Nein."
"Warum nicht?"
Ich begann zu weinen.
"Gib ihn mal her."
Ich hatte die Hände in die Höhe gestreckt, der Mutter den kugeligen weißen Kopf gezeigt, der sich kalt angefühlt hatte zwischen meinen Fingerspitzen. Hatte ihn ihr übergeben wollen. Die Mutter hatte Lederhandschuhe angehabt. Sie hatte nach dem Schneegesicht gegriffen, die Hände waren ins Leere gegangen, der Kopf zu Boden gefallen, gerollt. War dann auseinandergebröckelt.
"Entschuldige."
Dass die Mutter es absichtlich getan hatte, war mir bewusst. Ich denke nach. Warum wird man als Kind so oft belogen. Über den stechend hellen Himmel zog ein Schwarm Krähen. Kratzige Schreie. Kinder in Wägen, die an mir vorbeigeschoben wurden, mich mit stumpfen Augen anblickten. Mir kam es vor, als wäre Johanna der einzige Mensch, dem ich je begegnet bin.
(S. 146-148)
© 2020 Czernin Verlag, Wien
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