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Christina Maria Landerl: Alles von mir.


Leseprobe:

Lass uns nach Chattanooga fahren, sagt Karin; wir haben noch Zeit.
Die graubraune Straße mit den gelben Streifen in der Mitte ist wenig befahren, fast leer jetzt. Das Gras an ihren Rändern ist noch weißgelb vom Sommer; links und rechts von der Straße Bäume, Wälder vielleicht sogar. Die meisten Bäume noch kahl, dazwischen lila Blüten auf blattlosen Sträuchern.

Die Frauen im Auto haben die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben, tragen Sonnenbrillen, am Himmel sind keine Wolken zu sehen. Doch der Himmel ist kaltblau, das Licht weiß und hart, und die nackten Äste machen klar, dass nicht Sommer, nicht einmal Frühling ist wirklich.

Es ist dieselbe Straße, alles wie zuvor, nur die Sonne ist ein Stück nach unten gerutscht; Zeit ist vergangen und Meilen wurden gefahren.
Aus dem Autoradio kommt wieder Musik: ein sanftes Klavier und schmeichelnde Blasinstrumente, Bille Holiday singt.
Alles von mir. Warum nimmst du nicht alles von mir. Sahst du denn nicht: Ich bin nichts wert ohne dich. Nimm meine Lippen, ich will sie los sein. Nimm meine Arme, ich brauche sie nie mehr.
Nach zwei Strophen hat das Saxophon ein größeres Solo, danach fängt der Text von vorne an. Sie beginnt, unhörbar erst, mitzusingen, wird zum Schluss hin immer lauter: Wie kann ich weitermachen, ohne dich? Du hast das Beste genommen, also nimm doch auch den Rest. Baby, nimm alles von mir.

Karin starrt sie an; noch nie sei ihr so richtig aufgefallen, wie problematisch der Text sei.
Aber nicht, so wie Billie ihn singt, erklärt sie, die eben noch gesungen hat: Spöttisch ist der Gesang, lustig machen sich die Instrumente über den Schmerz; obwohl er zweifellos da ist, obwohl er zu spüren ist. Als würde die Sängerin außerhalb ihrer selbst stehen und sich beim Leiden zusehen. Hörst du nicht die Verachtung in ihrer Stimme? Wie sie fast unhörbar bricht, ein bitteres Lachen unterdrückend, wie sie höhnisch die Worte verschleppt?
Nein, sagt Karin.

Mittlerweile hat das nächste Lied angefangen, erst nur das Klavier, traurig, die traurige Stimme setzt ein, singt traurige Zeilen; er ist nicht treu, er schlägt mich auch, was soll ich tun, ich liebe ihn so.
Ob das auch ironisch gemeint sei, fragt Karin und schüttelt den Kopf.
Darauf sagt sie nichts mehr, richtet den Blick nach vorne, scheint sich nun ganz auf die wenig befahrene, schnurgerade Straße konzentrieren zu müssen.

Noch immer im Inneren des Autos, noch immer fährt sie, es ist still. Neben der Straße hat sich die Landschaft verändert: Auf beiden Seiten der Fahrbahn flache Felsen, auf denen Bäume wachsen, im Hintergrund immer wieder Erhebungen, bewaldete Hügel.

Ob sie ihr etwas vorlesen könne, fragt sie Karin, und Karin fasst wortlos nach dem Buch auf der Rückbank.
Billie ist jetzt im Gefängnis in Alderson, West Virginia; Karin fasst die vorausgegangen Geschehnisse zusammen: In Philadelphia sei sie wegen Drogenbesitzes festgenommen und verurteilt worden, während ihr damaliger Liebhaber freigesprochen worden sei.
Dass sie sie einfach allein ins Gefängniskrankenhaus geworfen hätten, liest Karin vor, auf kalten Entzug gesetzt, und ihr beim Leiden zugesehen hätten. Dass sie fast aufgegeben habe, dass sie gedacht habe, sie würde explodieren. Aber dass es vorbeigegangen sei, wie alles vorbeigehe.

Karins Stimme ist für einige Zeit nur leise zu hören und sie, die am Lenkrad sitzt, ist unscharf zu sehen, während die am Fenster vorbeiziehende Landschaft ganz klar ist, von felsigen Hügeln bestimmt.

Es habe einige Verliebte gegeben im Gefängnis, ist Karin nun wieder deutlich zu verstehen, aber wegen der strengen Segregation hätten Schwarze und weiße Frauen kaum Gelegenheit gehabt, zusammenzukommen. Nur auf dem Rückweg aus dem Kino hätten sie es manchmal geschafft, sich an den Händen zu halten.

Wieder Landschaft, die Stimme Karins undeutlich, die Fahrende lehnt sich weiter zurück im Sitz, nimmt eine Hand vom Lenkrad.

Dass die anderen Frauen Billie wieder und wieder angefleht hätten, zu singen, ist Karin nun wieder klar zu hören: Aber sie habe dort keine einzige Note gesungen. Die Grundlagen ihres Singens sei Gefühl, und wenn sie nichts fühle, könne sie auch nicht singen. In der ganzen Zeit in Alderson habe sie gar nichts gefühlt.
Dass diese Stelle wieder mit einem Kreuz markiert sei, fügt Karin an und hört auf zu lesen.

Zu sehen ist: ein kleines Stück Wiese zwischen Bäumen und Sträuchern, direkt am Highway. Hinter den Bäumen die Sonne, die nicht mehr sehr hoch steht, deren Licht schwächer ist jetzt und fast rötlich.

Jetzt kommt das graue Auto angefahren, blinkt, hält direkt auf dem Wiesenstück neben der Straße. Karin öffnet die Autotür, steigt aus und verschwindet rasch hinter Sträuchern und Blumen. Kurz darauf öffnet sich auch die andere Autotür; sie stellt erst einmal ihre Füße ins Freie, scheint noch unentschieden, ob sie das Auto verlassen soll, nimmt ihr Telefon in die Hand, legt es zurück, steigt schließlich doch aus, geht ein Stück von der Straße weg.
Aus nächster Nähe ist deutlich zu sehen, dass die Zweige doch nicht so kahl sind, wie sie beim Vorbeifahren ausgesehen haben; dass an den Enden Grün heraustritt, und es scheint, als könnte man diesen Vorgang tatsächlich beobachten.

(S. 83-88)

© 2020 Müry Salzmann, Salzburg

 

 

 

 

 

 

 

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