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Als ich einmal beinahe zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel gefahren wäre

Foto: www.detailsinn.at

von Irmgard Fuchs

"Vielleicht erwacht man eines Tages ausgehungert davon, nicht der gewesen zu sein, der man sein wollte", schreibt Gabriella Zalapì (Schweiz), nachzulesen auf Seite 91 der Broschüre des Europäischen Festivals des Debütromans 2020, und bündelt damit für mich ganz eindringlich das Gefühl beim Lesen der Texte der anderen geladenen Gäste, denen ich wegen Reisebeschränkungen, Risikozonierungen und einer pandemischen Krankheit niemals so wie gedacht begegnen werde. Vielleicht bilde ich mir diese kollektive "Unterströmung" der Texte ja aber auch nur ein, sage ich aus Mangel an jemand anderem, der es einwerfen könnte, zu mir selbst, denn: Gilt dieser Satz nicht für den Inhalt jeder Literatur. Eine erste Frage, die ich gerne in die Runde mir fremder Gesichter gefragt hätte, 12 Autorinnen und 1 Autor. Aber die Welt hat sich falsch herum gedreht und ich kann keinen von ihnen nach ihrer Einschätzung fragen, was Literatur kann oder soll; ob nun für sie selber oder in der Tradition ihrer Sprachen und Länder. Statt in einer Runde zu sitzen, sitze ich nämlich allein auf meinem Bett und studiere ein kleines blaues Büchlein mit 13 eingekreisten Köpfen auf dem Buchrücken. Ich gebe mir Mühe, von den schwarz-weißen Gesichtern Antworten oder wenigstens Tendenzen abzulesen. Aber natürlich weiß ich es insgeheim besser: Es lassen sich von Autorenfotos so gut wie nie irgendwelche Wahrheiten über die realen Personen dahinter ableiten. Nicht einmal ich selbst sehe mir ähnlich auf dem Bild mit den fiesen Augenbrauen; und ich würde gern wissen, was dieses Foto den anderen von mir erzählen wird. Ich schaue auf die Augenbrauen der anderen, dann die Augen, auf die Stellung des Mundes, und frage mich, ob sie es wohl alle ernst meinen. Was ernst?, fragt es in mir zurück, und ich spreche natürlich vom Schreiben, aber das Wort allein kann nicht ausdrücken, was ich gern damit meinen will.

Meint ihr es ernst genug?, wandle ich meine Frage ab, diesmal laut ausgesprochen unter dem Lichtkegel der Nachttischlampe, die die Gesichter am Buchrücken erhellt. Eine Frage, von der ich weiß, dass ich sie niemals gewagt hätte, vor Ort zu stellen. Ich meine, was sollte man darauf auch antworten. Die meiste Zeit schaffe ich es ja selbst nicht. Und frage es mich ja doch eigentlich immer. Mit jedem Wort, mit jedem Satz (vor allem mit den wieder gelöschten). Ich überlege, welchem schwarz-weißen Gesicht ich welche schwarz-weiße Antwort in den Mund legen könnte. Aber ich weiß ja selber nicht, was ich eigentlich hören will. Natürlich wünsche ich mir, dass alle ja sagten. Dass alle für ihre Texte ihr Herz wie ein Ei aufgeschlagen haben. Und es gibt auch genug Indizien, in den Texten, dass es stimmt. Oder zumindest gibt es Vögel, die aus diesen Herzeiern geschlüpft sein könnten. Durch fast alle Texte flattern sie. Sie fallen mir so stark auf, weil sie auch in meinem Debütroman regelrecht inflationär über die Seiten springen. Ich blättere zurück auf Seite 72 der Broschüre, wo "ich" stehe, und erinnere mich gleich, dass in meiner Textstelle keiner meiner Vögel vorkommt. Trotzdem überfliege ich meinen Textausschnitt, suche den Vergleich mit den Debüts von 12 anderen. Aber welche Schlüsse soll man ziehen aus einer Handvoll Szenen, von denen man nicht wissen kann, wie sie im Verhältnis zum Ganzen stehen. Denn 13 Textstellen sind nicht gleich 13 Bücher; und schon gar nicht die Geschichten dahinter. 

Ich liebe es, wenn andere Autorinnen und Autoren davon berichten, wie ihre Texte entstanden sind. So wie ich es auch liebe, von der Entstehung meiner eigenen Texte zu sprechen. Es ist nichts Autobiografisches, was ich hier meine, sondern es geht um abenteuerliche Schreib- und Formulierungsgeschichten voll von Irrwegen, abwegigen Problemen mit den Figuren und glücklichen Zufällen, die irgendwie nur Schreibende untereinander so richtig zu schätzen wissen können. Und ebenso liebe ich es, durch das Beobachten von Schreibenden, ihrem rein physischen Umgang mit der Welt, hinter den Bau ihrer Szenen zu blicken. Wie gerne hätte ich beispielsweise erfahren, wie Barbara Klicka (Polen) den Nahkampf zwischen einem viel zu großen Koffer und ihrer Protagonistin entwickelt hat; wie sie mit ihrem eigenen Koffer umgeht. Ihre Figur ist eine der Suchenden nach sich selbst. Und vor allem ist sie eine von vielen weiblichen Hauptfiguren in den Debüts.

Hoffentlich würde ich vor Ort genug Pathos in mir angesammelt haben, um auszurufen: NA ENDLICH gibt es sie in großen Mengen! Die Bücher über und aus der Sicht von Frauen. In meiner Jugend hatte ich so sehr auf sie gehofft, und so wenige gefunden. In all den Büchern meiner Jugend, die ich gern las, waren es nur lebenskranke Männer, die durch die Stadt waberten, deren Geschlecht ich ihnen für mich selbst abziehen musste. Ganz und gar absichtlich habe ich deshalb ja auch in meinem ersten Roman meine ganz eigene lebenskranke Frau erfunden und für die Länge eines Buches verlorengehen lassen. Das Verlorengehen, oder anders: die Suche nach einem Dahinter, Darüber, etwas Tieferem, entdecke ich auf den Seiten der Broschüre mit absurder Beglückung als ein wahrscheinlich viel größeres Thema als nur mein eigenes. Es ist mit der Zeit möglich geworden, als und über Frauen zu schreiben, ohne den üblichen Stempel und die übliche Kategorisierung im Sachbuchregal neben Menstruation dafür aufgedrückt zu bekommen. Das, was ich lesen will, das was ich schreibe, ist Literatur. All diese Texte, die von Frauen geschrieben sind und/oder komplexen Frauenfiguren folgen, sind Literatur, die als Vorzeigebeispiele aus Ländern zu internationalen Festivals geschickt werden.

Dennoch glaube ich nicht an einen Zufall, dass die Frauen in den Texten alle irgendwie einen Platz in der Welt suchen. Und zwar einen Platz jenseits der Welt, wie sie ist. Auch meine Romanfigur ist da keine Ausnahme, auch sie sucht nach einer anderen Möglichkeit für sich. Nicht Glück, nicht Liebe, sondern die Fähigkeit, endlich bei sich zu sein. Eine Suchbewegung, die mir auch bei vielen der anderen Texten auffällig entgegenkommt.

Ist der Zustand der Wirklichkeit tatsächlich überall ähnlich?, würde ich gern überrascht in die Runde fragen. Beim Lesen der Texte drängt sich mir diese Annahme auf. Ich denke: Da kommen einmal alle aus anderen Ländern, haben andere Leben, es herrschen keine Verbindungen (wo man sich sonst doch eh immer irgendwie kennt) – es müsste doch ganz zwangsläufig, wenn nicht alles, so doch vieles ganz anders sein. Dabei weiß ich gar nicht, warum ich auf dieser Andersheit vor mir selbst in diesem Moment so bestehen will. Gerade jetzt, wo wir durch die Pandemie alle in unsere eigenen Länder und Leben zurückgesperrt sind, wäre eine Gemeinsamkeit, die größer ist als wir selbst, doch eigentlich hoffnungsvoll. Und da beginnen auch schon, mich alle möglichen Bilder anzuspringen, um sich als Bekannte zu erkennen zu geben: die Vögel in fast allen Texten [am ärgsten die Eule im Zimmer von Alfredo Palomba (Italien)], der tote Fuchs [den ich aus einem früheren Text von mir im Text von Mariken Heitmann (Niederlande) genauso wiederfinde, wie ich ihn vor Jahren zurückgelassen habe], der unbekannte Vater [an dem es sowohl der Figur von Alexandra Riedel (Deutschland) als auch meiner zu mangeln scheint], und dann immer wieder die längst vergangenen Kindheiten, die sich in die Gegenwart mengen wie Tinte in Wasser.

Und dann sind da natürlich auch noch diese auffälligen Parallelen im Satzbau: Egal, woher die Schreibenden kommen, fast immer werden nur kurze Absätze geschrieben, Zeilen umgebrochen, Textarten gemischt; so als wäre dem guten alten Fließtext in allen Ländern und Geschichten längst zu misstrauen. Vielleicht ist es auch nur ein Trend, sagt die abgeklärte Autorin in mir. Vielleicht ist es aber auch ein Indiz dafür, dass man großen Zusammenhängen nicht mehr vertrauen kann. – Ist das so?

Auch darauf hätte ich gern eine Antwort, die nicht nur meine ist. All diese Antworten, die ich mir so wünsche, müssten auch gar nicht richtig sein. Aber als Diskurs sollten sie stattfinden. Ich stelle mir vor, dass sie gegen das Ende hin mit ein wenig sich hebender Stimmlage ausgesprochen werden, und dabei eine zumindest kurze, ephemere Verbindung all unserer Stimmen stattfinden könnte. Sie sollten etwas sein, das man mit zurück nach Hause nehmen kann und daran zehren, dass es Sinn macht. Dass es immer noch Sinn macht (vielleicht ja sogar mehr denn je), es ernst zu meinen. Mit Sicherheit bräuchten wir alle gerade jetzt eine Handvoll solcher Antworten, um sich an ihnen festhalten zu können, wie wir hier sitzen, in unseren Betten in all unseren Ländern. In einer Welt, die immer mehr in Puzzleteile in verschiedenen Rottönen zerfällt, je nach Ansteckungsrisiko und Gesundheitsversorgung, heißt Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit eines Landes.

© Irmgard Fuchs, 03. Oktober 2020

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