Sabine beißt sich auf die Lippen. Sie kämpft darum, die Tränen zu unterdrücken. So also fühlt sich das Wiedersehen an. Sie hat es sich über all die Jahre immer wieder ausgemalt und nun war doch alles ganz anders. In ihrer Seite sticht es. Sie atmet falsch. Sie verlangsamt das Tempo, versucht den Atem ihren Schritten anzupassen. Merkt, dass sie hyperventiliert. hat vergessen, was man dagegen tut.
Sie sehnt sich danach, endlich aus dem Ortsgebiet herauszukommen. Sie würde gerne schreien, heulen, die Fäuste gegen einen Baum schlagen. Hört das denn nie auf? Und warum habe ich diese blöden Tabletten nicht dabei? Ich hätte sie prophylaktisch nehmen sollen. Warum kann ich noch immer nicht für mich sorgen?
Sie stolpert über eine Wurzel. Tritt aufgebracht mit dem Gummistiefel dagegen und stößt sich dabei den Zeh an. Sie flucht und humpelt weiter. Ein wenig leichter ist ihr. Der Schmerz hat sie zur Besinnung gebracht. Wo will ich eigentlich hin? Sie schaut sich um.
Hinter ihr liegt der Friedhof. In der Aufbahrungshalle brennt Licht. Unter anderen Umständen würde sie wissen wollen, ob jemand gestorben ist, den sie kennt. Der Körbler vielleicht? Es ist pures Wunschdenken. Sie hat ihn ja eben gesehen. Bei bester Gesundheit, dynamisch und jovial. Nichts hat sich in all der Zeit verändert.
(S. 87)
© 2006, Milena Verlag, Wien.