(S. 13f)
Ich schreibe kaum noch. Ich gebe im Ressort die Richtung vor. Aber die wäre auch vorgegeben, wenn ich nicht einmal mehr nickte. Manchmal redigiere ich Artikel. Dabei muss ich allerdings äußerst vorsichtig sein. Denn jeder Versuch, aus schlechtem Deutsch etwas weniger schlechtes Deutsch zu machen, oder gar aus einer Phrase einen Satz, löst bei den Mitarbeitern Aggressionen aus: Sie halten gutes Deutsch für schlechten Journalismus. Franz zum Beispiel liebt diese blöden 'gibt-sich-Sätze'. Er hält sie für Stil. Auf jedes wörtliche Zitat folgt nicht 'sagte er' oder 'sagte sie', sondern ein 'gibt sich' plus Name plus Adverb. "'Die neue Anti-Aging-Gesichtscreme von Revlon ist die erste mit wissenschaftlich nachweisbarem Effekt', gibt sich Revlon-Presse-Lady Agnes Schönborn überzeugt." Oder "'Die Therme Obertuschl setzt neue Maßstäbe im Wellness-Tourismus', gibt sich Kurdirektor Unterpointner euphorisch." Ich lese das und gebe mich zufrieden. Zumal ich jetzt doch wieder selbst zu schreiben begonnen habe.
Schreiben Sie Nathan!, hat Hannah, also Frau Dr. Singer, meine Therapeutin, gesagt, schreiben Sie alles auf! Eine Reportage über die Reise, die Sie zu diesem Punkt gebracht hat, dass Sie keine Lust empfinden. Damit können wir dann arbeiten!
Eine Autobiographie?
Nein. Eine Reportage. Das können Sie. Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Reportage über die Schengen-Grenze schreiben, ein Leben an der Grenze. Tote Hose. Leben hart am Niemandsland. Wohlgeordnet, aber doch irgendwie bedroht. Weil das andere so nahe ist. Soldaten mit Nachtsichtgeräten patrouillieren mit scharfen Hunden, die darauf trainiert sind, Fremde zu wittern, die da eindringen wollen. Und jetzt ersetzen Sie Schengen durch Lust. Diese Reportage will ich von Ihnen lesen, Nathan!
Das hat alles sehr früh begonnen - aber ich möchte jetzt wirklich nicht meine Kindheit durcharbeiten. Ich will mein Alter in den Griff bekommen!
© 2007 Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main.