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Leseprobe: Doris Mayer - "Machalan"

"Heil Hitler!" brüllte Grete, als sie den Laden von Herrn Tannenbaum betrat. Sie hatte Viktoria in den Laden gehen sehen und wollte, so gab sie vor, einiges mit ihr besprechen. Der Zauberfaden war durch Gretes plötzliches Auftauchen gerissen. Betroffen wandte sich Viktoria ab. Härter als sie wollte, fuhr sie die Freundin an. "Pscht, Grete. Nicht so laut! Du weckst die Kinder!" Ihre Stimme klang vorwurfsvoll und bezog sich auf Gretes Gruß, den Viktoria sowieso nicht mochte und in der jetzigen Situation schon gar nicht verstehen konnte. Ungerührt beugte sich Grete zum Leiterwagen hinab und breitete die verrutschte Decke über Edna. Herr Tannenbaum hüstelte verlegen hinter seinem Ladentisch, nahm umständlich seine Brille ab und begann sie zu putzen. Viktoria beobachtete hilflos jede seiner Bewegungen. Worte des Trostes, Worte, die bloß zum Beschwichtigen gedient hätten, Lügen. Viktoria schwieg. Sie sah Sarahs Gesicht vor sich. Im Laden war es kalt, nur eine Spur wärmer als draußen, stellte sie fest und zog ihre Strickjacke enger um den Körper. Herr Tannenbaum trug seinen besten Anzug. Über den Ladentisch war sein Mantel gebreitet. Nervös zupfte er imaginäre Staubfussel vom Stoff. "Elias, kommst du?" Die Stimme von Frau Tannenbaum, die sich im Hinterzimmer des Ladens aufhielt, klang zittrig. "Ja. Gleich." Abwesend streifte sein Blick durch den Laden. "Also, ich wünsch Ihnen alles Gute!" meldete sich Grete zu Wort, und Viktoria hätte ihr am liebsten den Mund zugehalten. Herrn Tannenbaums Gesicht wirkte grau. Seine Hand wischte müde über seine Schläfen. Langsam bückte er sich und holte etwas unter dem Ladentisch hervor. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, traten in seine milchig-grauen Augen mühsam zurückgedrängte Tränen. "Bewahr das für mich auf", bat er Viktoria und drückte ihr eine kleine verschnürte Schachtel in die Hand. Sie nickte. Vorsichtig legte sie die Schachtel in den leeren Korb, in dem sie früher die Eier transportiert hatte. Grete verhehlte nicht ihre Neugierde und starrte ungeniert auf die Schachtel, wahrscheinlich hätte sie nur zu gern gewußt, was sich darin befand. Die Ladentür urde aufgerissen. Ein SS-Offizier hob seine Hand zum Hitlergruß. Edna war erwacht und begann zu weinen. "Na, abmarschbereit?" Der SS-Offizier baute sich vor Herrn Tannenbaum auf, neigte seinen Kopf zur Seite, damit er durch die Tür ins Hinterzimmer sehen konnte. Herr Tannenbaum schlüpfte in seinen Mantel. Viktoria wandte sich ab. Sie zog den Leiterwagen mit der weinenden Edna und dem aus dem Schlaf gerissenen, schreienden Maximilian ins Freie. Grete war ihr zögernd gefolgt. Vor dem Laden hielt ein Lastwagen, auf dem sich bereits mehrere Menschen befanden. Unter ihnen erkannte sie Jakobs Vater. Herr Tannenbaum und seine Frau, bepakct mit zwei großen Koffern, wurden vom SS-Offizier aus dem Laden getrieben. Im Vorbeigehen suchten Herrn Tannenbaums Augen die von Viktoria. "Pokój, mein Kind", flüsterte er ihr zu. Pokój, dachte Viktoria bitter und schob ihren Leiterwagen durch die Menge, die den Laster umringte. In das Geräusch des anfahrenden Wagens mischte sich nun die Stimme des Pfarrers, der die Schaulustigen aufforderte, mit ihm in die Kirche zu gehen und für das Seelenheil der Menschheit zu beten. Viktoria hatte sich rasch abgewahndt und zog schwer atmend den Leiterwagen hinter sich her. Grete war ihr gefolgt. "Ich versteh nicht, was du hast! Den Tannenbaums wird's sicher gutgehen, da, wo sie jetzt hinkommen." Mit einer verächtlichen Miene fügte sie hinzu: "Na, und um den Odorfer, den Sozi, ist's ohnehin nicht schad." Viktoria war über das eben Geschehene so verwirrt, daß es ihr schwerfiel, eine Antwort zu finden. In einer Mischung aus Mitleid und Verachtung blickte sie auf die Freundin, die ihr plötzlich so fremd erschien. Wer bestimmt denn, um wen es schad ist! Viktoria fühlte sich einem ekelhaften Zwiespalt ausgesetzt. Was ist richtig, was falsch. Alle, die sie im Ort kannte, waren einer Meinung: Weg mit den Juden und dem anderen Gesindel! Viktoria fiel es schwer, sich dieser Meinung anzuschließen. Sie war mehr denn je die Außenseiterin, das spürte sie ganz genau, an Blicken, die man ihr zuwarf, daran, wie Gespräche verstummten, wenn sie sich näherte. Und wenn schon! Schweigend setzte sie ihren Weg zu Tante Agathes Haus fort. Grete blieb zurück und schüttelte nur verständnislos den Kopf. (S. 155ff.)

© 2000, Deuticke, Wien, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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