Lorenzo Lotto
In Venetien und der Toscana war man seit langem darin übereingekommen, daß vor allem Frauen- und Kindergesichter ausschließlich nach der venetischen oder toskanischen Gesichtsanatomie malerisch auszuführen seien, um einen zweiten Fall Piero della Francesca ein für allemal zu vermeiden. Dessen Monumentalfresken in Arezzo spiegeln in erschütternder Weise jene Verwirrung wieder [sic], die den Maler nach einer Nordlandreise befallen hatte. Ein norwegischer Konstantin oder eine dänische Königin von Saba sorgen dort bis heute unter den Betern für Angst und Schrecken. (S. 46)
Tizian
Eine Geburt ohne Gegenwind wurde im damaligen Venedig immer seltener, manche Geburten konnten nur aufgrund von jeweils günstigen Windverhältnissen vonstatten gehen. Kein Rückenwind aus dem Mutterbauch. Meistens war ohne eine bestimmte Südsüdost-Brise an ein unbeschädigtes Geborenwerden kaum zu denken. Viele junge Mütter warteten von Woche zu Woche auf günstige Windverhältnisse, um ihre Leibesfrucht tatsächlich in wohlmeinende Lüfte entlassen zu können, und benannten die frischen Menschen aus Dankbarkeit meist nach dem jeweilig günstigsten Geburtswind, ähnlich den Malern, die mit ihren Farbenkünsten untrennbar in die Windkunst und die Luftanatomie verstrickt waren. (S. 84)
Luca di Barberini
Beschleunigung sei nicht nur ungesund und führe zu einer Deformation althergebrachter venezianischer Anatomie, sondern bedeute eine Verhöhnung aller Organ- und Kanaltheorien schlechthin: Beschleunigung, Geschwindigkeit und letztlich Sport führe zu nichts weniger als zu einer Verunstaltung der Gliedmaßen und zur Auslöschung der Schädelumrisse. [...] In der Malerei mußte sich vor allem Luca di Barberini diese Warnungen zu Herzen nehmen, denn er selbst hatte mit der Einführung der Geschwindigkeit in die Bilderkunst begonnen, und zwar nicht nur in die Perspektive im allgemeinen, sondern auch in die Menschenanatomie im besonderen. Er war beeinflußt von den damals aufkommenden neuen Andachtsübungen, die als "nestorianische Lockerungen" lange Zeit verpönt und erst zur Beförderung des schwimmenden Betens gleichsam wiederbelebt worden waren. Weil viele Konventualen ihren Tag mit Schwimmen zubringen mußten und gerade das lautlose Treiben auf der Wasseroberfläche zur beliebtesten Fortbewegungsart bei Mönchen und Nonnen geworden war, erfreute sich besonders diese vorbyzantinische Praktik großer Beliebtheit. Die schwimmende Andacht, das "schwimmende Heiligenfleisch", also die Unterwasserlitanei, gehörten zu den ersten Versuchen einer neuen Manier der religiösen Fortbewegung. (S. 98f.)
(c) 1997 Eichborn, Frankfurt/Main.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.