[...] "Sie verstehen die Vorsichtsmaßnahme. Ich bearbeite einen Mordfall, wie sie sicher schon gehört haben."
"Ja, natürlich", sagte der Pfarrer und lächelte. Sein Gesicht war von einem rotbraunen Bart eingerahmt, der nur sehr dünn wuchs. [...] Inmitten des Bartes lag der Mund, den große fleischige Lippen bildeten. Wenn er sich zu einem Lächeln öffnete, sah man unglaublich kleine Mäusezähnchen auf großen Wülsten von Zahnfleisch sitzen. Sein beinahe zahnloses Säuglingslächeln, das sehr unheimlich wirken konnte, brachte der Pfarrer jetzt hervor, als er sich für die späte Störung entschuldigte. Ich ging unregelmäßig in die Kirche und war dem Pfarrer nur selten begegnet. Im Nachhinein, aus der Distanz der Erinnerung, kann ich sagen, dass ich ihm regelrecht ausgewichen bin. Er versah seinen Dienst in der Gemeinde sehr ordentlich, ja sogar mit einer Pedanterie, die zu dem unweltlichen Charakter seiner Pflichten in Widerspruch zu stehen schien. Darüber hinaus aber war er nicht vorhanden und schien sich geradezu zu verstecken. Und die Leute versteckten sich vor ihm. Nach der Messe wartete er lange in der Kirche, bis sich die Menge draußen zerstreut hatte, und ging erst nach Hause, wenn Kirchplatz und Straße leer waren. Man begegnete ihm selten, immer saß er in seinem Haus unweit der Kirche oder ging in den Wäldern herum. Es war wohl so, dass er ungemein litt, aber er schien dieses Leiden niemandem mitteilen zu dürfen, und niemand schien davon wissen zu wollen, weil er der heilige Mann, der Pfarrer war. In der Dorfgemeinschaft war der Pfarrer ja kein bestimmter Mensch mit einer bestimmten Geschichte, sondern eine Institution, in die, von den Gläubigen unbemerkt, ein Mann eingemauert war, der dort verkümmerte. Die Verlegenheit, mit der dieser einsame Mann jetzt in meinem Vorzimmer stand und mehrmals murmelnd um Vergebung für den späten Besuch bat, wobei er sich immer wieder verhaspelte und mir kaum in die Augen sehen konnte, ernüchterte mich und machte einige der Schnäpse, die ich getrunken hatte, ungeschehen. (S.30 f)
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