Als Agnes aus der gemeinsamen Wohnung auszog und mit dem dicken Bauch ihre Habseligkeiten durch die Straßen schleppte, bot sich jemand an, ihr die Taschen zu tragen. Da war sie sicher, daß sie es auch allein schaffen konnte. Mehr als das Gerede der Leute und seinen Jähzorn fürchtete sie das Schweigen, mit dem sie der Mann nach jedem Streit bestraft hatte. Dieses Schweigen verleugnete alles, was ihr Leben ausmachte - ihre Freuden, ihre Ängste, ihre Sorgen und sogar die handfesten Dinge, die sie umgaben.
Wenn Agnes heute an diese Zeit zurückdenkt, sieht sie sich und den Mann in einer kahlen Wohnung mit nackten, weißen Wänden sitzen, obwohl sie doch weiß, wie vollständig und zweckmäßig alles eingerichtet war. Sie hatte fürchten müssen, daß sie eines Tages selbst von diesem Schweigen aufgelöst würde, wenn sie nicht früh genug die Flucht ergriff. Sie hat ihn damals erst nach Jahren bei der Scheidung wiedergesehen und - als gäbe es sie gar nicht - hat er sich bei ihr mit keinem Wort nach seiner Tochter erkundigt. An sein Gesicht kann sich Agnes nicht mehr erinnern, und die wenigen Fotos, die sie nur Karin zuliebe aufbewahrt hat, zeigen einen Fremden. Oft hat Agnes diese Fremdheit auch in ihrer Tochter gesehen. Das erschreckte sie, und sie wollte ihre zwiespältigen Gefühle mit bester Fürsorge wiedergutmachen.
Agnes ging nicht auf die Modeschule, weil sie für das Kind sorgen mußte. Sie ging vormittags in die Fabrik und arbeitete nachmittags zuhause für die Privatkundinnen. Als Karin genau wie sie viel zu früh schwanger wurde, nahm sie ihr das Kind ab, damit zumindest Karin ihren eingeschlagenen Weg fortsetzen konnte. Den Gedanken an eine eigene Karriere hatte Agnes damals lange schon aufgegeben. Sie hatte immer schon recht früh geglaubt, daß alles zu spät sei.
Agnes hielt es für eine gute Idee, als Karin ihr sagte, sie wolle Schauspielerin werden. Sie war sofort bereit gewesen, ihr die teure Ausbildung zu bezahlen. Als Kind war Karin immer so schüchtern gewesen, daß Agnes ihr alles vorsagen mußte, was zu tun war: Gib die Hand! Schau die Leute an, wenn sie mit dir reden! Mach kleinere Schritte, halte dich gerade! Karin war folgsam und hielt sich an die Anweisungen. Selbstbewußtsein hatte sie erst gezeigt, als sie in einer Schulaufführung das eigensinnige Mädchen spielte, das sich auf den Weg zum Zauberer von Oz macht. Agnes saß damals in der ersten Reihe und erkannte ihre Tochter nicht wieder, die auf der Bühne sang, tanzte und vor allem laut und deutlich redete. Diesem Mädchen da oben war alles zuzutrauen. Niemand würde es von seinem Weg abbringen können, und bei allem Eigensinn war es auch noch so sympathisch, daß ihm alle Zuschauerherzen zuflogen. Wahrscheinlich hat Agnes ihre Tochter nie so geliebt wie damals, als sie Karin mit ihren seltsamen Freunden auf dem Weg durch jenes wunderbare Märchenland beobachtete.
Sie hatte sich der Frau zugewandt, die neben ihr saß, und geflüstert: "Wie finden Sie meine Tochter?" Und die Frau hatte zurückgeflüstert: "Sie ist phantastisch, ganz fabelhaft!" Ja, hatte Agnes gedacht, aber sie ist es nur, solange sie sich dafür nicht verantwortlich fühlt.
Karin war trotzdem nur eine mittelmäßige Schauspielerin geworden. Ihr Talent reichte wohl nur für eine Wanderbühne. Sie würde kaum je ein Engagement an einem großen Theater haben. Wenigstens zog sie sich nicht für billige Filme aus. Sie hielt etwas darauf, Kunst zu machen. Agnes fragte sich manchmal, was, außer den Kostümen, bei diesen Aufführungen als Kunst gelten konnte. Aber sie verstand nichts davon. Zum Glück. So konnte sie immer noch glauben, es sei tatsächlich Kunst, wofür Karin ihrer beider Leben verwendete.
Es hatte Agnes gefallen, die Stücke zu lesen, den Charakteren nachzuspüren und sie in Kostüme zu kleiden. Sie fertigte die Kleider immer aus billigsten Materialien, weil die Truppe kaum Geld zur Verfügung hatte. Das war auch so ein Merkmal der Kunst, daß nie Geld dafür vorhanden war und daß nicht allzuviele Leute an ihr Gefallen fanden. Das behauptete jedenfalls Karin. "Die Masse hat keinen Geschmack", sagte sie. An Agnes' Entwürfen hatten viele Leute Gefallen gefunden. Das hätte sie wohl mißtrauisch machen müssen. Aber weil Agnes selbst ein Kind der Masse war, ist sie stolz darauf gewesen. (S. 77ff.)
(c) 1997, Haymon, Innsbruck.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.