Sie küssten einander verschlingend vor dem Fahrkartenschalter, vor der Gepäcksaufgabe und auf der Rolltreppe, die sie hinauf zu den Bahnsteigen brachte. Sie küssten einander verschlingend vor dem Waggon, in dem der Platz für Agathe reserviert war, der sie fortbringen sollte. Sie küssten einander verschlingend, verzweifelt und zugleich mit der nüchternen Feststellung, dass sie jetzt kitschigerweise eine Vorstellung als klassisches Liebespaar abgeben mussten.
Eine Frau mit einem Kind an der Hand antwortete auf die Frage des Kindes, weshalb die beiden sich küssend weinten, dass die zwei sich trennen müssten. Agathe und Ulrich hatten diesen Abschied so knapp geplant, dass die Heftigkeit der Küsse und Umarmungen sich praktisch bis zum Anpfiff des Zugführers steigern konnten, aber nicht den Höhepunkt erreichen. Diesen wollten sie beim nächsten Zusammentreffen anstreben, das würde die Anknüpfung erleichtern und die Sehnsucht nähren, dachten sie jeder für sich. Der Aufschub ist ein brauchbares Instrument zur Dosierung der Gefühle und der Verlängerung ihrer Dauer. Womit die beiden nicht rechneten, war, das Nicht-Ertönen des Abfahrtssignals. Über die Lautsprecher wurde keine Aufforderung zum Einsteigen verkündet, stattdessen eine einstündige Verspätung des Zuges. Man kann das als Katastrophe bezeichnen, denn jetzt wurde ihre Küsserei sinnlos.
Ulrich nahm Agathes Tasche und sie gingen über den Bahnsteig zurück in die Halle. Sie schritten ihre Inszenierung zurück, der Abschied kam beiden fehlerhaft vor.
(S.35f)
© 2009 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien.