»Die anderen springen doch auch. Für ihre Mädchen.« »Na ja ...«, stammelte ich. Herrgott, warum brachte sie mich in eine solche Verlegenheit?
»Stimmt«, sagte Erichs Schwester. »Angie zuliebe könntest du auch einmal zeigen, was du draufhast.«
»Zeig ich doch eh dauernd. Oder nicht?«
»Ja, schon, aber nicht so, vom Zehner«, sagte Angie.
Was sollte ich machen? Natürlich hätte ich zugeben können, dass ich mich nicht traute. Damit hätte ich mich ein für alle Mal als Witzfigur deklariert, als jämmerlicher WaschÂlappen, den kein Mensch mehr ernst nehmen konnte. Auch langes Zögern hätte einen ungünstigen Eindruck erweckt. Was blieb mir anderes übrig? »Klar springe ich«, sagte ich. »Kleine Mutprobe. Spricht nichts dagegen.«
Ich ging zum Sprungturm rüber, hantelte mich zum FünfÂmeterbrett hinauf, dort begann schon die Warteschlange. Ich versuchte möglichst nicht hinunterzuschauen auf die chlorwasserbespritzten Waschbetonplatten unter mir. Auf dem Siebeneinhalbmeterbrett spielte ich zum ersten Mal mit dem Gedanken umzukehren, kämpfte die Versuchung aber nieder. Oben auf dem Zehner erfasste mich ehrliche, aufrichÂtige Panik.
»Wen haben wir denn da?«, sagte Richie. Er lehnte entÂspannt am Geländer, warf mir einen mitleidigen Blick zu.
»Wollte mal ein bisschen Höhenluft schnuppern«, sagte ich.
»Nicht zu dünn für dich, die Luft hier oben?«
»Geht so«, sagte ich. »Warum fragst du?«
»Nur so.«
Ich klammerte mich ans Geländer, schaute ins SchwimmÂbassin hinunter. Man sah bis auf den Grund: Wirkte höher als zehn Meter, viel höher.
Ich warf einen Blick zum Beckenrand, entdeckte Angie mitten unter den anderen. Sie winkte mir zu, Erichs SchwesÂter und die anderen Mädchen winkten auch, kicherten. Ich hob die Hand, grüßte nonchalant nach unten. Irgendwo weit weg läuteten Kirchenglocken. Ein Hochzeit vielleicht, oder eine Taufe.
Nach und nach leerte sich die Plattform. Ein HunÂdert-Kilo-Mann mit beachtlichem Bierbauch war einer der Letzten, der seinen Körper in die Tiefe wuchtete. Er donnerte im Schustersitz ins Becken. Jubel, Pfiffe, Applaus. Dann standen nur noch Richie, Harrt', Heinz und Joe oben. Und ich.
Mein Puls schlug wie verrückt. Sobald ich nach unten schaute, krampfte sich mein Magen zusammen.
»Jetzt wird es sich entscheiden, Kleiner ... «, sagte Joe. »Was?«, sagte ich. »Was wird sich entscheiden?«
»Ob du am Abend eine Runde auf meinem Moped drehen darfst oder nicht.«
Die anderen lachten.
»Kein Interesse«, sagte ich. »Dein Moped kannst du dir in den Arsch schieben!«
Joe stieß sich vom Geländer ab. »He, he, he ...«
»Ach, lass ihn«, sagte Richie. »Dem Kleinen geht eh schon der Stift.«
Vom Zehner aus hatte man einen guten Blick über das Messegelände und die Stadt bis hinüber zu den hügeliÂgen Ausläufern des Hausrucks. Ich konnte die Aussicht im Augenblick allerdings nur eingeschränkt genießen. Alles in mir war Panik und Schwindel, alles drehte sich und rotierte, ich konnte nichts dagegen machen. Das Kindergeschrei da unten, das Stimmengewirr der Schaulustigen am BeckenÂrand, die Lautsprecherdurchsage vom Kassenhäuschen herüber, das alles verschwamm zu einer einzigen stumpfen Geräuschkulisse, die aus weiter Ferne zu mir herüberzuweÂhen schien. Irgendwo pfiff der Bademeister. Harrt' grinste und sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich sah nur die Bewegungen seiner Lippen. Die anderen lachten. Ich löste mich vom Geländer und atmete tief durch. Dann trat ich an die Betonkante.
(S. 74-76)
© 2010 Czernin Verlag, Wien.