Georg Asamer hatte unlängst erst seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Wenn er sich auch gern sagte und noch lieber es sich von anderen sagen ließ, dass er immer noch sehr jugendlich aussehe, überkam ihn doch bei Gelegenheit die niederdrückende, weil unabweisbare Gewissheit, er würde einmal sterben müssen. Nicht dass ihm der Gedanke nicht auch früher schon gekommen wäre. Die Vorstellung, sterben zu müssen, hatte aber eine Art von Direktheit und Unmittelbarkeit angenommen, die es ganz und gar ausschloss, die Sache von einem philosophischen und also überlegenen Standpunkt aus zu betrachten.
Ja, er, mit diesen seinen Armen und Beinen, mit seinem Kopf und seinem immer noch schön gewölbten Brustkorb, würde dereinst in der Erde liegen, umgeben von nichts anderem als Lehm und Kieseln, eventuell noch umrankt von den Wurzeln von Bäumen oder Sträuchern, die in der näheren Umgebung seines Grabes etwa wachsen würden.
Beim Zähneputzen in der Früh, wenn er sich, zum Spiegel über dem Waschtisch hin, einen aufmuntern- den Blick zuwarf, der doch immer geholfen hatte, seine Schlaftrunkenheit oder die Abgemattetheit nach einer eventuell durchfeierten oder durcharbeiteten Nacht aufzuheben, wenn er sich derart im Badezimmerspiegel erblickte, spürte er manchmal plötzlich die Kieferknochen unter dem Fleisch seiner Wangen, er sah, jetzt hatte alles die plastische Eindringlichkeit eines Traumbilds angenommen, seine Zähne in diesen abgewinkelten, solide gebauten Knochenspangen stecken, und es ließ sich auch nicht verheimlichen, dass da und dort ein Zahn fehlte oder durch ein künstliches Machwerk ersetzt worden war.
Am lächerlichsten kamen ihm dann immer seine Füße vor, zu denen er für gewöhnlich den Blick senkte, um sich von seiner Anwandlung zu befreien: Da standen sie platt auf dem kühlen Fliesenboden, mit ihren dämlichen Zehen und Nägeln – die doch nie etwas vom Sterben gehört oder gewusst hatten und auch nie etwas wissen würden!
Es wäre nun ganz falsch, den Georg Asamer auf derlei Gedanken zu reduzieren oder reduzieren zu wollen.
Vielmehr endete diese Szene im Badezimmer meist damit, dass er zu schmunzeln anfing, sich selber einen Dummkopf nannte oder, auch das kam vor, sich in einer plötzlichen, innigen Aufwallung religiöser Gefühle mit ein paar Dankesworten an einen ihm im Übrigen ganz fernstehenden Herrgott wandte, ihm zu versichern, dass er, Georg Asamer, sehr wohl wusste, wie privilegiert er unter den Menschen war, dass alles überhaupt viel schlechter für ihn hätte ausgehen können. Außerdem war der Zorn auf seine Füße ungerecht. Sie sahen gar nicht so übel aus für sein Alter, immer noch rosig und von einer Art pummeliger Festigkeit oder Feistheit des Fleisches – richtige Nichtstuerfüße eigentlich; Kinderfüße; Füße eines Spaziergängers oder die eines Weiberhelden. Dabei bin ich alles andere als gerade das, dachte Asamer, nicht ohne einen mürben Stolz dabei zu empfinden, der ihn mit dem Wohlgefühl des Gerechtfertigt-Seins berührte und gleich wieder anödete durch seine immanente Kleinkariertheit.
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