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Gerhard Rühm: Lügen über Länder und Leute.

Vollständige Erzählungen und Gedichte.
Klagenfurt: Ritter Verlag, 2011.
140 Seiten; brosch.; Euro 13,90.
ISBN: 978-3-85415-476-1.

Link zur Leseprobe

"lache zur zeit, du koenntest am abend weinen!"

"der dichter denkt, der reim lenkt." Mit dieser selbstironischen These schließt Gerhard Rühm sein Nachwort zum neuen Buch "Lügen über Länder und Leute." Rühms augenzwinkernde Lüge ist der poetologische Motor seiner Textsammlung aus verschiedenen Jahrzehnten. Halb ernst, halb schmunzelnd konstatiert der Autor, der Dichter sei ein bloßer "Reimeschmied", ein Worthandwerker, der im vorgegebenen Takt der Sprache auf die Wörter einhämmert. "Vollständige Erzählungen und Gedichte" verspricht der Band im Untertitel. Vollständig in Bezug auf das Lebenswerk? Mit dieser naheliegenden Annahme fällt der gutgläubige Leser bereits auf den nächsten poetischen Schwindel herein. Eigentlich gemeint sei, verrät der Autor erst im Nachwort, die Vollständigkeit des Ausgangsmaterials oder Formprinzips der zwölf enthaltenen Prosatexte.

In einem dieser Prosastücke wird das alphabetische Verlagsverzeichnis eines alten Reclamhefts so untergliedert, dass die Schlusstitel jedes Absatzes eine Ahnung vom Liebesdrama des historischen Paars Abaelard und Héloise geben. Die komplette Buchstabiertabelle des deutschen Telefonbuchs liefert die Basis für den Text "vollständige reiseerzählung". Das höchst musikalische Prosastück "mit lanner unterwegs", beruhe, so Rühm, auf allen Werktiteln des österreichischen Komponisten und Wiener-Walzer-Königs Joseph Lanner. Und im turbulent erotischen Lustspiel "die entfesselte küche" seien sämtliche Speisen mit Länder- und Ortsnamen verarbeitet, erklärt der Autor im Nachhinein.

Der große Schwindel des dichtenden Lügenbarons: Die Texte sind nichts weniger als automatische Schreib-Produkte eines schlichten Reimeschmieds. Seine poetischen "Readymades" sind eine geniale Interaktion von Auswahl, Regel und Zufall. Das dokumentarische Ausgangsmaterial wird von Rühm höchst kunstvoll poetisiert, Vorgefundenes durch spezifische Manipulation aus pragmatischen Sinnzusammenhängen in ästhetische überführt. Jedes der zwölf experimentellen Prosastücke funktioniert dabei nach seiner eigenen Methode – bis auf das allen identische Prinzip der Vollständigkeit. Im intertextuellen Gefüge gilt jedes der einzelnen Glieder der Reihe als gleich berechtigt – wie die Einzeltöne in der vom Pianisten und Komponisten Rühm studierten Zwölftonmusik. Jeder Leser soll selbst die Komposition der Zwölftonreihe individuell weiter ausführen. Die Kunst entsteht hier eigentlich erst im Kopf des Lesers.

Um poetische Konzeptkunst handelt es sich auch im zweiten Teil des Bandes mit gereimten Experimentaltexten: 24 Verstexte mit "Lügen über Länder und Leute" und eine "Kleine österreichische Volkskunde" aus 6 Gedichten, bei denen alle Reimwörter eines Ländernamens den verbalen Grundstock eines Gedichtes bilden. Streng nach dem selbst gesetzten Motto "der dichter denkt, der reim lenkt", eröffnen sich auch hier aus mechanischen Prinzipien folgenden Verknüpfungen verblüffende poetische Wirkungen – dynamisch akzentuiert von komplex verschlungenen Reimkonstruktionen und sprechgestisch pointierten Rhythmen. Präsentiert wird ein skurril-komisches Lügen-Panoptikum von Dänen mit Zähnen wie Hyänen, von Griechen, die Blumen selbst in leeren Vasen riechen, oder Finnen, die auf Linnen minnen. Poetische Ohrwürmer, die ihre absurden Lügenreime im Kopf des Lesers weiterspinnen.

Rühms "Lügen über Länder und Leute" sind ein Appell an den mündigen Leser, selbst in den Dialog mit der Sprache und dem Autor zu treten. Der Autor spielt systematisch aus willkürlichen Regeln Momente kalkulierter Unschärfe frei, um die Fantasie des Lesers zu aktivieren. Und hier entpuppt sich schließlich der Schwindel der Vollständigkeit der "Erzählungen und Gedichte" am Ende als tiefere Wahrheit: Denn die Texte dieses schmalen Bandes sind tatsächlich vollständig, weil beispielhaft für Rühms gesamtes literarisches Programm. Ziel seiner konzeptionellen Poesie ist seit jeher die Sensibilisierung für und das Aufbrechen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsmechanismen. Rühm geht es bei seiner experimentellen Spracharbeit von Beginn an um die Erweiterung der Grenzen sprachlicher Kommunikation und menschlichen Bewusstseins. "Lügen über Länder und Leute" gelingt das auf besonders leichte und humorvolle Weise. Ein kleines unverzichtbares Rühm-Brevier für alle Freunde konzeptioneller Poesie.

Michaela Schmitz
14. Dezember 2011

Originalbeitrag

Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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