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Katharina Tiwald: Die Wahrheit ist ein Heer.

Roman.
Wien, Graz, Klagenfurt: Styria Verlag, 2012.

208 Seiten; broschiert; Euro 24,99.
ISBN: 978-3-222-13365-7.

Leseprobe

Autorin

Die Jungautorin Katharina Tiwald, die bislang Erzählbände und Theaterstücke publizierte, hat – selbst als Lehrende an Schule und Universität tätig – einen Schülerinnenroman verfasst. Damit steht ihr Roman in der Tradition österreichischer Schülerromane wie Musils Romandebut „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, Torbergs Romandebut „Der Schüler Gerber“ oder Horvaths Roman „Jugend ohne Gott“ (der auch als Lehrerroman bezeichnet werden könnte). Diese Romane führen allesamt (den inhumanen Geist ihrer Zeit spiegelnd) psychische Abgründe, brutale Hierarchien und sadistische Machtausübung, psychische und physische Demütigung bis hin zu Gewalt und Mord vor, die den Alltag von am Schul- und Gesellschaftssystem leidenden jungen Menschen präg(t)en. Dabei wird die Schule als Modell der herrschenden Gesellschaftsysteme herangezogen. Als Texte der Zwischenkriegszeit reflektieren diese Romane etwa die Inhumanität in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus oder das negative Erbe des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Monarchie, das sich in autoritären Gesellschaftsstrukturen niederschlägt. An diese vielschichtigen Texte, die ausgehend von den psychologischen Wirrnissen ihrer pubertierenden Protagonisten zunehmend totalitäre Gesellschaftsstrukturen darstellen, ist natürlich schwer anzuschließen. Auch sind die heutigen Schulsysteme – bei aller Kritik, die angebracht sein mag – nicht mit jenen der Zwischen- bzw. Vorkriegszeit zu vergleichen.

Es geht bei Tiwald stattdessen um eine auf Emotionen und emotionales Versagen ausgerichtete Erzählung. Eine scheiterne Selbstfindung exerziert Tiwald – und das ist erfreulich angesichts der Überfülle scheiternder junger, pubertierender Männer, die die österreichische Literatur bevölkern – an einer weiblichen Protagonistin durch. Das „Mädchen G.“ (auch Horvath hat seine Protagonisten, seine Masse der Mitläuferschaft, nur mit Buchstaben benannt) wird von seinem schulischen Werdegang bis hin zu seinem tragischen Lebensaustritt begleitet. Diese weibliche Hauptfigur ist der personifizierte „Durchschnitt“ – namenlos bleibend wird sie als nicht schön, auch nicht hässlich, in keiner Weise bemerkenswert anders oder speziell, dafür als schüchtern und zurückgezogen dargestellt. Auch ihr Lebenslauf ist durchwegs exemplarisch, die ersten Demütigungen und enttäuschten Hoffnungen, die junge Menschen in diesen prägenden Jahren erleben, werden aneinandergereiht: Wie ein Kindergeburtstag und ein Schulalltag in der „Provinz“ aussehen, was die berüchtigte Mathematik (die auch dem künstlerisch begabten Schüler Gerber zum Schicksal wird) mit sensiblen Menschen machen kann, wie sich die Demütigungen durch Klassenkollegen oder die immer wieder scheiternde Annäherungen an Freundinnen gestalten, was ein erster Kuss und ein misslungenes erstes Mal für die Innenwelt von Jugendlichen bedeuten, und welche weiteren Demütigungen durch grausame Alpha-Tierchen der Klassengemeinschaft das Fass zum Überlaufen bringen können – all dies wird stark distanziert und in sprachlich verfremdeten „Schleifen“ erzählt. Auf Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, in die als Autoritätspersonen und Verantwortliche Hoffnung gelegt werden könnte, ist ebenfalls kein Verlass: Der Vater ermahnt die Tochter bloß, keine Versagerin zu werden, die Mutter ist eine weitere große Unbekannte und der Lehrkörper hat seine eigenen Ängste und Probleme zu bewältigen.

Tiwalds Blick auf dieses (klein?)bürgerliche Aufwachsen und eine scheiternde Selbstfindung bringt dabei leider nicht allzuviel Neues, obschon es innovativ erzählt wird: Versagensangst, Gleichgültigkeit der Umgebung, psychische Gewalt durch eine (Klassen-)Gemeinschaft, in der jeder um seinen Platz im beginnenden Leben kämpft und sexuelle Frustration. Dass dies im konkreten Fall mit dem Selbstmord eines Menschen endet, ist aus dem Erzählten nicht ausreichend motiviert und wird leider auch durch ein konstruiertes, pseudodramatisches Ende noch unglaubwürdiger: Nach den Demütigungen und dem Abgestempeltwerden zur Schlampe geht das namenlose Mädchen G. nach Hause und liest ostentativ den bereits als Buchgeschenk eingeführten Roman von Gabriel García Márquez, der den Titel „Hundert Jahre Einsamkeit“ trägt, womit das Innenleben der Protagonistin überdeutlich plakatiert wird. Dabei dürfte hier wohl auschließlich dieser Titel Grund dafür sein, dass die Autorin diesen Roman als Lektüre für ihre Protagonistin wählt, denn seiner inhaltlichen wie auch sprachlichen Struktur nach wirkt dieser Intertext wie ein Irrläufer in Tiwalds worttiradischem, von Neologismen strotzendem Roman. Danach schluckt G. die Schlaftabletten ihrer Mutter. Man fühlt sich an Schnitzlers Fräulein Else erinnert, die sich ob ihres Schamgefühls, das durch gesellschaftliche Zwänge und Verlogenheiten verletzt wurde, ebenfalls umbringt.

Die Distanz, die Tiwald neben ihrem Erzählstil auch durch die Depersonalisierung der Hauptfigur und die Modellhaftigkeit der anderern Figuren erreicht, macht den Text leider streckenweise zu einer Aneinanderreihung von sprachlich überfrachteten Wortspielen. Tiwalds Ketten von grammatikalisch bewusst unkorrekten oder uvollständigen Sätzen, Metaphern, Neologismen und Spielereien sind etwas umständlich zu einem langen (Erzähl-)Strang zusammenmontiert. Auch die eingschobenen metafiktionalen Passagen sind teilweise zu gewollt platziert: „Ist das ein Ereignis, das uns interessiert? Das den Fortgang der Geschichte beschleunigt? Brauchen wir einen plot? Ich weiß nicht. Wissen Sie es?“ (93)

Sprachspielerisch begabt ist die Autorin allerdings mit Sicherheit, dies sei als eine Stärke des Textes hervorgehoben. Über weite Strecken hinweg kann der Sog ihrer Sprache fesseln. Es bleibt also zu hoffen, dass Tiwald weiterschreibt, versprechend genug ist ihr Romandebut. Ihre sprachliche Sensibilität und ihr genauer Blick könnten in einem besser strukturierten und inhaltlich überzeugenderen Projekt geradezu mitreißend sein.

Elena Messner
11. Dezember 2012

Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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