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no. 5: perspektive afrika -> editorial
 

editorial

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich nicht allzuviel verändert, möchte man oft meinen, wenn es um die Positionen der sogenannten ersten Welt zum Thema Afrika geht. Es mag vielleicht aus der politisch korrekten Mode gekommen sein, vom schwarzen Kontinent zu reden und in gleichem Zuge mit ökonomischer Ausbeutung und politisch-kultureller Unterdrückung auch alle verborgenen Sehnsüchte und Ängste der modernen Gesellschaft in die archaische Wildheit des afrikanischen Dschungels zu projizieren, doch kann der verläßlich getrübte westliche Blick ohne große Umstände immer noch aus dem afrikanischen Kontinent das diffus-apokalyptische Bild eines Anderen erschaffen, das seuchen-, kriegs- und armutsüberrannt dem europäischen Gegenüber die sichere Position kultureller und ökonomischer Überlegenheit verschafft.

Man mag sich nur ungern daran erinnern, daß das aus sicherer Entfernung zu beobachtende Chaos, ob nun in Ruanda, im Kongo, Sierra Leone oder Angola letztlich auf die willkürlich von Europäern gezogenen Grenzen der Kolonialzeit zurückzuführen ist. Nach reinen Machtinteressen und höchstens noch mit Blick auf die ein oder andere geographische Gegebenheit aufgeteilt, zerriß das koloniale Schachbrett ein kulturelles Netzwerk, dessen traditionelle Kategorien nun mit verzerrtem Gesicht wieder an die Oberfläche gelangen. In ihrem Katalogisierungswahn taten die Europäer ihr Bestes, die bestehenden ethnischen Unterschiede ihrer 'Untertanen' beständig zu verstärken und oft gar schlichtweg zu erfinden. -- Darüber, ob Hutus und Tutsis friedlich miteinander leben würden, wenn nicht die belgischen Kolonialherren auf ihrer Seite der Grenze der Tutsi-Minorität ein europäischeres Aussehen zugeschrieben hätten, um so das mörderische Ungleichgewicht zwischen Hutus und Tutsis zuallererst zu produzieren, möchte man hierzulande lieber nicht spekulieren. Und nachdem mit dem Ende des kalten Krieges auch das strategische Interesse an Zentralafrika verlorengegangen ist, zuckt man nur noch hilflos mit den Schultern, während der Kampf um die Macht im Kongo sich zum Regionalkonflikt auszudehnen droht und die Flüchtlingslager beständig weiter wachsen.

Bei aller Schwarzmalerei vergißt man dann auch immer wieder gerne, mit welcher Vielfalt und Größenordnung man so in einem Atemzuge umspringt. Wo hätte Europa nicht überall Platz zwischen Marokko und Mozambique, dem Senegal und Somalia? Da ist der Kosovo der Bundesrepublik allemal näher als Nigeria, wo Ende des Monats, so steht zu hoffen, der langerwartete erste Schritt zu einer Zivilregierung unternommen wird. Und vielleicht auch gleichzeitig weiter entfernt als Südafrika, wo die Untersuchungen der Wahrheitskommission immer auch an die Ereignisse der eigenen Geschichte und Gegenwart denken lassen. Nähe und Distanz messen sich eben zumeist anders, als an nationalen oder kontinentalen Grenzen.

Es lohnte sich daher wie immer, näher hinzuschauen, differenzierter zu urteilen und es sich nicht zu leicht zu machen in einer Zeit, die sich einfach keine Klischees mehr leisten kann.

Alexander Schlutz

 

autoreninfo 
Dr. Alexander Schlutz leitet die parapluie-Redaktion, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Tübingen und Seattle, und unterrichtet zur Zeit Englische Literatur am John Jay College of Criminal Justice in New York City.
E-Mail: alexander.schlutz@parapluie.de

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