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no. 27: arbeit -> editorial
 

editorial

"Deutschland startet durch." So jubelte Ende Mai 2011 das Handelsblatt. Die Arbeitsmarktentwicklung ist seit Anfang des Jahres stabil positiv; Erwerbsarbeit hat Konjunktur. Aller Krisenstimmung in der EU zum Trotz sagt das Institut für Wirtschaftsforschung Halle für die bundesdeutsche Wirtschaft ein Wachstum von über drei Prozent für 2011 voraus. Statt des Streits um Hartz-IV-Regelsätze steht die Sorge um den angeblichen Fachkräftemangel im Vordergrund. Der demografische Wandel weckt die Illusion, mit sinkenden Erwerbstätigenzahlen werde sich die Arbeitslosenproblematik von allein beheben und es gebe bald mehr Arbeit, als wir in Deutschland zu leisten imstande sind.

Und dennoch gibt es allen Anlass für parapluie, eine Ausgabe dem Schwerpunktthema 'Arbeit' zu widmen. Angesichts der Diffusion des Konzepts in immer mehr Lebensbereiche -- von Reproduktions- über Emotions- bis hin zur Bürgerarbeit -- erscheint es nötiger denn je, sich dieser vermeintlich selbstverständlichen, inmitten fortschreitender Technologisierung, Ökonomisierung und Individualisierung jedoch zunehmend ambivalenten Entwicklung zu nähern, und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven.

Während Hannah Arendt vor gut 60 Jahren noch befürchtet hatte, dass der Menschheit angesichts der fortschreitenden Automation "die Arbeit ausgehen" würde, hat der technologische Fortschritt ganz das Gegenteil befördert. Steigende Produktivität nährt immer neue Konsumbedürfnisse in immer mehr Teilen der Welt und treibt das Wirtschaftswachstum in ungeahnte Dimensionen, so dass es mehr Lohnarbeit gibt als je zuvor. Arbeitsökonomische Studien allein für Deutschland zeigen, dass das Erwerbsvolumen in den letzten 130 Jahren deutlich gestiegen ist und sich die Zahl der Beschäftigten -- auch durch die Verkürzung der individuellen Arbeitszeiten -- extrem erhöht hat. Arbeitsplatzverluste im industriellen Bereich wurden durch Zuwächse im Dienstleistungssektor mehr als ausgeglichen. Was aber bedeutet dieser Wandel für die Inhalte von Arbeit?

Für den Arbeitsmarkt stellen sich die Fragen nun vorrangig bei der Verortung von Arbeit und ihrer zunehmende Reduzierung auf ihren monetären Wert im globalen Markt der Finanzkräfte. Mit der fortschreitenden Digitalisierung werden Produktions- und Arbeitstechniken immer weiter revolutioniert und neu organisiert. Umschulungen, Auslagerungen, Rationalisierungen sind inzwischen in allen Arbeitsbereichen an der Tagesordnung und setzen weltweit neue Ströme von Arbeitsmigrant/-innen in Gang.

Das aus den USA bekannte Phänomen der working poor, also Jobber im Niedriglohnsektor, die trotz Vollbeschäftigung finanziell nicht über die Runden kommen, wird angesichts der Aufkündigung der alten Sozialverträge auch hierzulande mehr und mehr zur Alltagsrealität. Die Ostdeutschen, so der Kultursoziologe Wolfgang Engler, könnten bezüglich ihrer Erfahrungen geradezu als "Avantgarde" gelten, und er gelangt angesichts seiner historischen und gesellschaftspolitischen Analysen der Figur des Bürgers, ähnlich wie Götz Werner und weitere Fürsprecher eines bedingungslosen Grundeinkommens, zu der Forderung, das "Recht auf Arbeit" in ein "Recht auf Einkommen" umzuwandeln.

Würde ein solches Grundeinkommen der Mehrzahl der Beschäftigten auch die notwendige Sicherheit geben, um ihren tatsächlichen Neigungen jenseits des Konsums nachzuspüren und sich wieder dem zu nähern, was selbstbestimmte 'Eigenarbeit' sein könnte? Der taz-Kolumnist Mathias Greffrath fürchtet eher, dass es das "Ethos der Arbeitsgesellschaft" durch ein "Grundrecht auf lebenslange Stütze für alle" ersetzt. Auch Hannah Arendt würde vermutlich Zweifel anmelden. So scheint ihr damaliger Befund, dass es zwar der Zweck der Arbeitsgesellschaft sei, sich von den "Fesseln der Arbeit" zu befreien, diese Gesellschaft jedoch nur noch "vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten (kennt), um derentwillen die Befreiung sich lohnen würde", nach wie vor ins Schwarze zu treffen.

Im Jahre 2004 schrieb die Leipziger Schriftstellerin Angela Krauß über die Arbeitsverhältnisse in ihrer erzgebirgischen Heimat: "Meine Großmutter klagte nicht, sondern seufzte lustvoll. So verlieh sie unbewußt ihrer Befriedigung darüber Ausdruck, daß ihre Zeit bis zum Rand gefüllt war mit fremdbestimmter, schwerer, gesundheitsschädigender Arbeit. Sich quälen, es nicht leicht haben ließ sie in ihrer Klasse zu Hause sein." Die Sicherheit einer 'Klasse' ist inzwischen abhanden gekommen, die Ambivalenz der Erwerbsarbeit wächst. Dem Wirtschaftsmagazin brand eins zufolge ist 73 Prozent der heutigen Deutschen ein Traumjob mehr wert als ein hohes Gehalt; 85 Prozent jedoch würden auf ihren Traumjob verzichten, um nicht arbeitslos zu sein. Diese Umfrageergebnisse verweisen auf ein klassisches Dilemma, von André Gorz mit folgenden Worten charakterisiert: "Das unabdingbare Bedürfnis nach einem ausreichenden und sicheren Einkommen ist eine Sache, das Bedürfnis, zu werken, zu wirken und zu handeln, sich an anderen zu messen und von ihnen anerkannt zu werden, eine andere, die weder in der ersten aufgeht noch mit ihr zusammenfällt."

Der in Großbritannien lebende Publizist Alain de Botton machte jüngst die so frappierende wie banale Feststellung, dass in den Bestsellerstapeln unserer Buchhandlungen der Gegenstand Arbeit eine Leerstelle darstellt. Obschon die meisten von uns vermutlich die beste Zeit des Tages mit ihr befasst sind, wird wenig über die Praxis der Erwerbsarbeit publiziert -- sei es belletristisch oder im Sachbuch. Ist das Alltägliche schlicht zu selbstverständlich? Zugleich scheint der beschleunigte technologische Wandel der Arbeit aber auch Unbehagen auszulösen. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass abgesehen von de Bottons The Pleasures and Sorrows of Work auch andere Titel wie Ich schraube, also bin ich von Matthew B. Crawford, Richard Sennetts Handwerk oder zuletzt die Studie Die Krise der Arbeit des französischen Soziologen Robert Castel eine breitere Leserschaft erreichen.

Dies wünschen wir uns nun auch für diese 27. Ausgabe von parapluie und laden zu einem Streifzug ein, der mit Ausführungen über die Totalisierung des Prinzips Arbeit beginnt, Einblicke in die Dilemmata deutscher Familien- wie globaler Kinderarbeit eröffnet, durch deutsche Callcenter leitet und über einen Spaziergang durch die 'Metropolis' Berlin und Betrachtungen zum Nachleben des DDR-Kollektivs schließlich auf August Sanders Spuren mit dem "Menschen des 21. Jahrhunderts" endet.

Anke Bahl
Patrick Wilden

 

autoreninfo 
Anke Bahl stammt aus dem Norden Deutschlands und studierte Empirische Kulturwissenschaft, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Eugene, Oregon. Inzwischen ist sie im Rheinland zu Hause und lebt in Bonn. Nach Tätigkeiten im Bereich der Medienforschung und Europäischen Jugendbildung ist sie nun schon viele Jahre in der Beruflichen Bildung unterwegs. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Betrieblichen Bildung und Ausbildungskultur. Verschiedene Veröffentlichungen.

Patrick Wilden, geboren 1973, aufgewachsen in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen. Geschichtsstudium in Tübingen und Rouen, Verlagsvolontariat in Stuttgart. Lebt und arbeitet als Antiquar in Dresden. Schreibt neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten Lyrik und Kurzprosa. Mitarbeit bei den Internet-Zeitschriften parapluie und kultura-extra.de. Im Jahr 2000 Würth-Literatur-Preis mit der Kurzgeschichte "Klassenfeind". Gründungsmitglied des Literaturforums Dresden.

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