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no. 24: wildwüchsige autobiographien -> girolamo cardano
 

Nichts als die nackte Wahrheit

Wildwuchs und Schonungslosigkeit in Girolamo Cardanos De Propria Vita

von Maximilian Benz

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Girolamo Cardano verfaßt im 16. Jahrhundert mit seiner Autobiographie De Propria Vita einen faszinierenden Text, der sich souverän zwischen den Zeiten bewegt: Einerseits noch Zuflucht bei religiösen Sinnzentren suchend, andererseits bereits die Einzigartigkeit des Ichs reflektierend, kann hier das Entstehen moderner Individualität in actu beobachtet werden.

 

Nachdem die Franzosen bei Adda über Venedig gesiegt hatten, veranstalteten sie am 14. Mai 1509 einen Triumphzug durch Mailand. Ein weiteres Kapitel im langjährigen Kampf um Italien war damit abgeschlossen. Begonnen hatte der Niedergang Italiens rund 15 Jahre zuvor: Karl VIII. von Frankreich (1483-1498) hatte das Königreich Neapel beansprucht; vorbereitet durch Verträge mit England, Habsburg und Spanien und im Bündnis mit Herzog Ludovico Sforza il Moro von Mailand war die Eroberung Neapels schließlich 1494 gelungen. Das italienische Staatensystem begann zusammenzubrechen. In Florenz waren die Medici vertrieben worden, Savonarola herrschte. Ludwig XII. von Frankreich (1498-1515) griff erneut an, 1500 wurde Mailand besetzt. Italien büßt im folgenden seine alte Rolle endgültig ein und wird zum Austragungsort eines habsburgisch-französischen Konflikts.

Es ist kein Zufall, daß der Niedergang Italiens mit den großen politischen und ökonomischen Transformationsprozessen zu Beginn der Frühen Neuzeit koinzidiert: Nach der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Ostindien änderten sich die Anforderungen an die Handelsnationen. Italien konnte dabei schwer mithalten und war der Konkurrenz der seefahrenden Nationen kaum gewachsen. Die Erstürmung und Plünderung Roms 1527, der 'Sacco di Roma', ist ebenso ein Sinnbild des Niedergangs wie auch jener Triumphzug der Franzosen am 14. Mai 1509, den auch ein kleiner Italiener, der siebenjährige Girolamo Cardano, vom Fenster aus beobachtete.

Cardano war 1501 als uneheliches Kind in Pavia zur Welt gekommen und damit in diese Zeit des Niedergangs hineingeboren worden. Sein Lebensweg zeugt exemplarisch von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts in Norditalien, er ist gekennzeichnet durch politische Wirren und Instabilität, Seuchen und Pest -- vor letzterer war Cardanos Familie vor seiner Geburt aus Mailand geflohen. Nach seinem Studium an den Universitäten Pavia und Padua wurde er zum Doktor der Medizin promoviert und ließ sich als Arzt nieder. Aus einer Ehe gingen eine Tochter und zwei Söhne hervor; die Kinder waren aber eher Ursprung von Unglück denn von Glück. Trauriger Tiefpunkt war die Hinrichtung seines Sohnes, der seine Frau vergiftet hatte, als sie im Wochenbett lag. Neben seiner Tätigkeit als Arzt lehrte Cardano in Mailand Mathematik sowie Griechisch, Astronomie und Dialektik, von 1543 bis 1560 hatte er mit einer Unterbrechung einen Lehrstuhl für Medizin an der Universität Pavia inne, dieselbe Funktion bekleidete er später acht Jahre lang an der Universität Bologna. 1570 wurde Cardano eingekerkert, nachdem man ihn der Häresie angeklagt hatte. Vermutlich war ihm dabei zum Verhängnis geworden, daß er Jesus Christus ein Horoskop gestellt und ein Enkomion (Lobpreis) auf den Christenverfolger Nero verfaßt hatte. Ab 1571 lebte Cardano in Rom, wo er auch 1576 starb -- an genau dem Tag, für den er seinen Tod vorausgesagt hatte. Allerdings ging bald das Gerücht, Cardano habe Selbstmord begangen, um seine eigene Prophezeiung zu erfüllen.

Das Leben Cardanos mit all seinen Brüchen und Krisen kann als Kommentar zur Geschichte Italiens im 16. Jahrhundert gelesen werden. "Lesen" ist im wörtlichen Sinne zu verstehen, denn Cardano hat eine "eigne Lebensbeschreibung" (1575/76) verfaßt, die in den 1640er Jahren von Gabriel Naudé in Rom in Cardanos Nachlaß gefunden und daraufhin ediert wurde. Das Autograph ist mittlerweile verloren, so daß alle späteren Ausgaben von Cardanos De Propria Vita auf die Edition Naudés zurückgehen: Der Text ist insgesamt in einer schlechten Verfassung, neben offensichtlichen Fehlern bleiben einige Stellen unverständlich: Es ist unklar, wo der Text verdorben und wo Cardanos 'dunkles Latein' und sein nicht immer ganz klarer Gedankengang dafür verantwortlich sind. Die einzige deutsche Übersetzung fertigte Hermann Hefele an (1914 bei Eugen Diederichs in Jena), ein Nachdruck ist 1969 erschienen (Kösel München).

 

I

Cardano ist sich des Traditionszusammenhangs (auto-)biographischen Schreibens durchaus bewußt; sowohl pagane Autobiographien -- wie Caesars Commentarii -- als auch christliche -- allen voran natürlich die Confessiones des Augustinus -- kennt Cardano: Für das hohe Ziel einer wahrheitsgemäßen Darstellung steht Marc Aurel Pate. Wiewohl er sich durch die Voranstellung eines chronologischen Überblicks leserfreundlicher wähnt als Sueton, greift er dessen Technik der 'Rubrizierung' nach Themen auf: Seine Lebensbeschreibung gliedert er nicht chronologisch, sondern wählt bestimmte Charaktereigenschaften oder Sachzusammenhänge aus, die er 'systematisch' ausführt: Die 'Zeit' war noch nicht reif für eine Darstellung, die sich ganz auf das Evolutionäre verlegt, die darauf abzielt, eine Entwicklung darzustellen. Es macht die eigentümliche Zwischenstellung von Cardanos Autobiographie aus, daß er sein Leben im Grunde nicht mehr als 'Exemplum', also als Aktualisierung allgemeingültiger Normen begreift, aber im Rückblick auf sein Leben auch keine Entwicklung einer individuellen Biographie im modernen Sinn zu erkennen vermag.

Trotz der beschriebenen Traditionszusammenhänge und wegen der Umbrüche am Beginn der Frühen Neuzeit also hatte sich zur Zeit Cardanos eine feste Gattungstradition noch nicht herausgebildet; Cardanos Text -- mehr als jedes spätere Zeugnis (auto-)biographischen Schreibens -- zeichnet mithin eine spezifische Janusköpfigkeit aus: Es handelt sich weder um eine rein wissenschaftliche Autopsie noch um einen bewußt erzählenden Text. Innerhalb eines noch keineswegs ausdifferenzierten literarischen Systems -- der Prozeß setzt zu Cardanos Zeit erst ein -- ermöglicht die Paradoxie (auto-)biographischen Schreibens generell, nämlich die Spannung zwischen dem Anspruch auf Faktizität und der narrativen -- aber nicht: fiktionalen -- Organisation einen 'Wildwuchs', als dessen Kennzeichen sich Vorläufigkeit, Unabgeschlossenheit und Asymmetrie im experimentellen Status von Cardanos Text niederschlagen: So in der lieblosen stilistischen Gestaltung, aber auch in der nachlässigen Erzählweise, die eben nicht immer erzählt, sondern oftmals dokumentiert. Dies und das Bemühen um Vollständigkeit führt zu einer reihend-summarischen Darstellung, die gelegentlich die Tendenz hat, zur bloßen Statistik zu werden:

"Meine Heimat ist Mailand; das Städtchen, aus dem die Familie stammt, Cardano, 24 000 Schritte von Mailand, 7000 von Gallarate entfernt. Mein Vater hieß Fazio und war Advokat; der Großvater hieß Antonio, der Urgroßvater wieder Fazio [...]. Heute leben noch von dieser ganzen Linie ungefähr dreißig Verwandte."

An einigen Stellen kann das reihende Verfahren auch unfreiwillig komisch wirken, so beispielsweise wenn Cardano über seine Mutter schreibt, sie sei "jähzornig, von gutem Gedächtnis und klarem Verstand, klein von Gestalt, fett, fromm" gewesen.

Das Dargebrachte erweckt den Anschein des 'ungeordnet Hingeworfenen' und somit auch -- ein sicherlich kaum kalkulierter Effekt -- des Authentischen; die Verweigerung eines geordneten Aufbaus und einer stilistischen Gestaltung, so scheint es, spiegelt den Unwillen wider, das eigene Leben als geschlossenes Ganzes zu stilisieren.

 

II

Den schwankenden, unsicheren, oszillierenden Status des Texts zeigen Cardanos explizierte Intentionen. Im Zentrum steht für ihn die Erkenntnis der Wahrheit, die unmittelbar verbunden ist mit dem Ziel des Schutzes vor "Verleumdung". Zeit seines Lebens empfindet sich Cardano als Opfer übler Nachrede -- sicherlich nicht zu Unrecht, betrachtet man die zahlreichen Schwierigkeiten in seinem beruflichen Leben und vor allem natürlich die Inhaftierung. Ein ganzes Kapitel ist "Verleumdungen, falsche[n] Anklagen, heimtückische[n] Anschläge[n], mit denen mich Denunzianten verfolgten", gewidmet. Aber nicht nur im Sinne einer Verteidigung will er der 'lux veritatis' zu vollem Glanz verhelfen: Aus hehren Motiven ist der Wissenschaftler an der Wahrheit interessiert, und nicht zuletzt aus Gründen der Selbsterkenntnis und Rechenschaftsablage will er sein Leben "ohne jede Schminke" darstellen. Dabei hat er das Buch natürlich nicht nur für sich geschrieben: Offen bekennt er sich zu seinem Streben nach Ruhm und dem Wunsch, seinen Namen zu verewigen. Schließlich ist er stolz über das Erreichte, seinen Aufstieg trotz der Widerstände. Dennoch war sich Cardano der Vergänglichkeit alles Menschlichen und vom Menschen Hervorgebrachten bewußt und weiß um die Irrationalität seines Wunsches nach Ruhm:

"Oder werden deine Schriften ein paar Jahre dauern? Wieviel Jahre? Hundert? Tausend? Zehntausend? Nenne mir irgendein Buch aus der Geschichte, auch nur ein einziges von so vielen Tausenden, dem ein so langes Leben beschieden war! [...]
Kein Wunder war es, daß ich einst brannte, besessen von der Gier nach Ruhm; aber heute ist es ein Wunder, daß ich immer noch brenne, obwohl ich all dies eingesehen habe. Und doch ist jene tölpelhafte Gier geblieben. Des Caesar und jener andern Pläne waren töricht; eine Ruhmbegierde aber, die ich inmitten soviel widriger Geschicke und solcher Hindernisse hege, ist tölpelhaft dumm, nicht bloß töricht."

Cardano mißt seiner Schrift in bestimmter Hinsicht durchaus Exemplarität zu: Der Rezipient soll aus der Lektüre allgemein Gültiges schließen können, z.B. "daß großer Dinge Anfang wie ihr Ausgang oft trüb und dunkel ist". Pädagogische Zwecke -- er versteht sein Leben wie gesehen eben nicht als 'Exemplum' -- verfolgt er bei all dem aber nicht; er will nicht belehren -- eine Haltung, die vielleicht aus der Einsicht in die eigene Unvollkommenheit erwachsen ist.

Dieser Unvollkommenheit ist sich Cardano nicht nur bewußt, er stellt sie auch offen dar. Er war ausgebildeter Arzt. Seine Profession, so scheint es, spiegelt sich in einer 'klinischen' Herangehensweise an seine eigene Person wieder. Auch bei seiner Selbstbetrachtung legt er den Blick des Naturwissenschaftlers nicht ab, vielmehr tritt er in Distanz zu sich selbst und stellt sich schonungslos Diagnosen: "Nachdem, wie man mir erzählt, vergebens Abtreibungsmittel angewandt worden waren, kam ich zur Welt [...]".

Grausame Wahrheiten notiert er scheinbar ohne Anteilnahme, ganz so, als schriebe er nicht über sich selbst, sondern über einen anderen. Gerade dadurch wirkt seine Lebensbeschreibung an einigen Stellen unterkühlt: "[...] so ward ich nirgends verletzt als an den Geschlechtsteilen, so daß ich von meinem 21. bis zum 31. Lebensjahre nicht mit Weibern verkehren konnte [...]". Aber nicht nur körperliche Gebrechen oder das lieblose Verhalten anderer ihm gegenüber notiert Cardano auf diese direkte Weise: Auch mit sich als Person geht er hart ins Gericht: "Ich bin wenig fromm und sehr vorlaut im Reden; überaus jähzornig, so daß ich mich darob schäme und mir vor mir selber ekelt." Ferner spricht Cardano von seiner "vorlauten, unbedachten Art" und stellt fest, daß er "allzu rasch und hastig" sei und seine Pläne entsprechend "überstürzt und voreilig". Im 51. Kapitel ("Worin ich glaube gefehlt zu haben.") nennt er als seinen größten Fehler die mangelhafte Erziehung seiner Kinder. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet gesteht er Schwächen ein: "Die Wahrheit über alles: anderer Leute Erfindungen fand ich in den meisten Fällen bald als fehlerhaft oder verstand sie nicht, so daß ich von all dem keinen Nutzen hatte."

Den emotionslos, ja ganz 'objektiv' erzählten Sätzen und Passagen stehen aber auch Klagen über das Schicksal gegenüber, die erahnen lassen, daß hinter dem naturwissenschaftlich inspirierten Beobachter, dem Autor, auch ein Mensch steht. Nicht zuletzt wegen der leisen Töne, die Cardano an diesen Stellen anschlägt, und der aus ihnen sprechenden Resignation, muten sie tieftraurig an: "Aber mein böser Stern verließ mich nicht; er änderte nur meine traurige Lage, hob sie nicht auf." Besonders die Hinrichtung des eigenen Sohnes hat Cardano schwer getroffen, immer wieder erwähnt er sie und fügt gegen Ende der Autobiographie, im 50. Kapitel eine "Totenklage auf meinen Sohn" ein.

Der Text ist also nicht nur auf einer Metaebene als Übergangsphänomen zur Neuzeit interessant, sondern greift dem Leser unmittelbar in die Seele, wo immer ein Mensch zu Menschen spricht.

 

III

Die Schonungslosigkeit ist Ausdruck des Willens zur wahrheitsgemäßen Darstellung und Ergebnis naturwissenschaftlicher Inspiration, gleichzeitig aber auch logische Konsequenz der Ortlosigkeit des Individuums zur Zeit Cardanos. Diese kann als symptomatisch angesehen werden für das, was Luhmann in seinen wissenssoziologischen Arbeiten zum Individuum dargelegt hat: Im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft beginnt das Individuum, sich allmählich nicht mehr über eine Inklusions-, sondern eine Exklusionsindividualität zu begreifen: Das Individuum wird insofern 'ortlos', als es sich nicht mehr einem bestimmten Stand zugehörig fühlt (Inklusion), sondern an den verschiedenen Funktionssystemen wie Religion, Wirtschaft, Politik, etc. partizipiert, ohne aber einem bestimmten System fest und ausschließlich zugerechnet werden zu können. Es definiert sich mithin durch Exklusion. Diese schwerwiegenden Transformationsprozesse führen zu Unsicherheit generell -- und hier im besonderen zur Unmöglichkeit, die eigene Biographie als unproblematische und in sich geschlossene anzunehmen.

Der Text findet sich in einer Art Zwischenstellung wieder: Den Auflösungs- und Problematisierungstendenzen stehen Ordnungsprinzipien und Sinnzentren gegenüber, die gleichsam Halte-Punkte des problematischen Lebensentwurfs darstellen und Cardano helfen, in Distanz zur eigenen Person zu treten. In diesem Zusammenhang läßt sich auch an Norbert Elias' These vom Zusammenhang von Affektkontrolle, Selbstdistanzierung und Objekterkenntnis im Zuge des Zivilisationsprozesses denken.

Cardano geht im zweiten Kapitel in aller Ausführlichkeit auf sein Horoskop ein, war er doch fest von der Macht der Sterne überzeugt -- was ihn sicherlich auch dazu motivierte, das Horoskop Jesu zu erstellen. Aus dieser Überzeugung folgt eine Einschränkung seiner Autonomie, er kann auch als vernunftbegabtes Individuum nur im Rahmen dieser Prädispositionen handeln:

"Über meinen natürlichen Charakter bin ich mir durchaus klar geworden: ich bin heftig von Temperament, naiv, der Sinnlichkeit ergeben. Und aus diesen Eigenschaften, gleichwie aus Prämissen, folgen die weiteren: Grausamkeit, hartnäckige Streitsucht, eine gewisse Rauhheit des Charakters, Unvorsichtigkeit, Jähzorn und eine Rachgier, die das Maß meiner Kräfte und Mittel weit übersteigt, jedenfalls aber ein stets zur Vergeltung geneigter Wille [...]." (H.d.m.)

Neben charakterlichen Fehlern leitet Cardano aber auch physische Gebrechen, wie die oben erwähnte Impotenz, und äußere Umstände aus seinem Horoskop ab:

"Es fehlen mir körperliche Kräfte, ich habe nur wenig Freunde, ein kleines Vermögen, dagegen immer mehr Feinde, deren größten Teil ich weder dem Namen nach noch von Angesicht kenne; es fehlt mir die rein menschliche Weisheit, ich habe auch kein gutes Gedächtnis, dafür aber ein etwas größeres Maß von guter Voraussicht."

Cardano erklärt Schwächen, Fehler und Widrigkeiten also zum Teil durch Hinweis auf den Stand der Sterne zum Zeitpunkt seiner Geburt; auch die schwierigen Verhältnisse, in denen Cardano aufwuchs und lange Zeit lebte, führt er entschuldigend an -- so beispielsweise in bezug auf seine Leidenschaft für das Würfelspiel. Darüber hinaus aber argumentiert Cardano auch -- wenn man so will: anthropologisch: Er geht von der menschlichen Neigung zum Bösen, der Erbsünde, aus. Durch all diese Faktoren -- sie klar zu analysieren, bedeutet für Cardano "wissenschaftliche" Erkenntnis -- fühlt sich Cardano entlastet, sie ermöglichen es ihm ohne Rücksicht über sich selbst und die Umstände seiner Existenz zu schreiben.

Gewichtiger aber scheint Cardanos tiefe Religiosität zu sein. Bei seinem Blick zurück auf sein Leben erkennt Cardano trotz aller Schwierigkeiten, Probleme und Härten die Kraft des Glaubens und kann von sich behaupten "stets ein treuer Anhänger meiner Religion und ein gottesfürchtiger Mann geblieben" zu sein. In Gott erkennt Cardano

"das unermeßliche Gut, die ewige Weisheit, Anfang und Quelle alles reinen Lichtes, die wahre Freude in uns, bei der wir nicht fürchten müssen, daß sie uns einmal verlasse, den Grundstein der Wahrheit, die willige Liebe, den Schöpfer aller Dinge, der in sich selbst selig und allen Seligen Schutz und letzte Sehnsucht ist, die tiefste und erhabenste Gerechtigkeit, die für die Toten sorgt und der Lebendigen nicht vergißt."

Trotz aller Unvollkommenheit begreift er seine Natur als "des Göttlichen teilhaftig" und gewinnt aus den schmerzlichen Erfahrungen seines irdischen Daseins Hoffnung und Trost. Am Ende seines Lebens verfaßt er einen großen Rechenschaftsbericht, der ihn letztlich in seinem Glauben bestätigt.

"In den verstandesmäßigen Dingen entscheidet die frei gewollte Tat, in den sonderbaren Schicksalsfügungen jener innere Glanz, der nur angedeutet, nicht beschrieben werden kann, in den ganz über sterbliche Art hinausgehenden Dingen aber mein Schutzgeist, der weder beschrieben noch auch nur angedeutet werden kann und der außerhalb meiner Macht steht."

Cardanos tiefe Religiosität schafft es -- oder ist zumindest darum bemüht --, die zahlreichen Spannungen, Paradoxien und Aporien seiner (Auto-)Biographie aufzulösen, die aufs Äußerste mit den tiefgreifenden Transformationsprozessen der Frühen Neuzeit verbunden ist.

 

IV

Zu Unrecht ist Cardano mittlerweile fast völlig vergessen; auch wenn er nicht zu den Denkern der ersten Reihe gehört, faszinierte sein Leben -- bis weit über seine Zeit hinaus. So ist von Carl Friedrich Cramer in einem Bericht vom Mai 1772 die Bemerkung Lessings überliefert, daß ihn "unter allen Büchern auf Erden [...] keines mehr interessirt [hätte], als die eigne Lebensbeschreibung des wunderlichen Cardan." Lessing widmet Cardano auch eine seiner Rettungen, in der er ihn vom Vorwurf des Atheismus freispricht. Dabei geht es auch schon Lessing nicht um ein uneingeschränktes Lob Cardanos, sondern um ein gerechtes Urteil: Lessing begreift ihn dabei aber stets als Kind des 16. Jahrhunderts, das noch ganz fern war von einer Kritik der Apologetik.

Und noch ein weiterer großer deutscher Dichter setzt Cardano ein Denkmal. Er beginnt das erste Buch des ersten Teils seiner Autobiographie folgendermaßen:

"Am 28sten August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an [...]; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. [...]
[... D]urch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte."

Zum Vergleich das zweite Kapitel von De Propria Vita:

"[... Ich] kam [...] zur Welt im Jahre 1501, am 24. September, als die erste Stunde der Nacht noch nicht vollendet [...] war. [...] Ich habe festgestellt, daß damals die beiden großen Sterne [Sonne und Mond] unter bestimmten Winkeln niederstiegen [...]. Des weiteren aber, weil der Ort der vorhergehenden Konjunktion unter dem 29. Grad der Jungfrau lag, [...] so mußte ich mißgestaltet zur Welt kommen. [...] So ward ich denn geboren, oder vielmehr aus der Mutter herausgezogen, fast wie tot [...]."

Der Vergleich beider Stellen zeigt nicht nur, daß Goethe Cardanos Lebensbeschreibung "freundlich ironisierend" (Stefan Lindinger) aufgreift, sondern verdeutlicht zugleich die unterschiedliche Vorstellung von Autobiographie, die den beiden Werken zugrunde liegt. Beide Texte sind auf ihre Art authentisch: War bei Cardano noch die 'lux veritatis' allein im Zentrum gestanden, so geht es bei Goethe um Dichtung und Wahrheit.

 

autoreninfo 
Maximilian Benz, Jahrgang 1983, studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin Germanistik, Klassische Philologie und Erziehungswissenschaft; als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes arbeitet er 2006/07 am Studienkolleg zu Berlin an einem Projekt über Gibraltar (Grenzfall als Anachronismus?).

 

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