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no. 23: bewußtseinserweiterungen
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aufgelesen |
Tilman Rammstedt: Wir bleiben in der NäheKöln: DuMont, 2005. 237 Seiten. |
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"Wir bleiben in der Nähe" hat etwas Lauerndes und das mit Recht, denn was hier passiert, ist ein ständiger Überfall auf die Normalität: Zuerst wird Katharina entführt, weil sie heiratet, ohne ihre langjährigen Freunde Konrad und Felix gefragt zu haben. Dann ist die Entführung selbst aber von solcher Banalität, daß sie nur noch Rammstedts Sprache ins Groteske zu retten vermag. Und schließlich kippt die eine Entführung in eine weitere, nur um die neugewonnene Form der Normalität im Leben der Entführer/Entführten zu retten. |
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So spektakulär es klingt, aber um der Handlung willen werden hier keine Worte gemacht. Umgekehrt ist die Entführung weitgehend dadurch motiviert, daß der Erzähler eine Handlung als Hintergrund braucht, vor dem die Beobachtung des Banalen grotesk -- und damit höchst unterhaltsam -- erscheinen muß. Da ist eine Entführung gerade gut genug. |
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Im Kleinen findet sich das Groteske in Miniaturen wie dem Geschlechtsverkehr auf dem Küchentisch im Rückblick: "als Katharina und ich uns anblickten und leider nicht laut anfingen zu lachen, weil unsere Position nüchtern, wie wir jetzt waren, betrachtet doch eigentlich zum Lachen gewesen wäre" (152f.). Und im Großen in Dialogen, die die Inhaltsleere des Zusammenseins der Drei zum Inhalt hat. Als Felix sagt: "Wir brauchen noch etwas Zeit", fragt Katharina zu recht zurück -- denn immerhin ist sie nun schon seit Tagen entführt und möchte endlich die Bedingung hören unter der man sie wieder in die Freiheit entläßt -- |
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" 'Wie bitte?', und ich sagte es noch einmal, schrie es diesmal, um Wind und Regen zu übertönen, und Katharina schrie zurück: 'Zeit wofür?' |
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So wie Felix hinausschreien muß, daß es zumindest innerlich etwas zu sagen gibt, verhält es sich auch mit diesem Roman, in dem auf der Handlungsebene allenfalls Fang den Hut mit verschärften Regeln gespielt wird. "Innerlich" aber "arbeitet es pausenlos", d.h. der Erzähler ergeht sich in langen Monologen, die einerseits unterhaltsam, weil grotesk deskriptiv sind, andererseits aber das Scheitern von Entscheidungen zum Thema haben. Der Erzähler sucht krampfhaft nach einem Grund für die Wiederaufnahme der Dreier-Beziehung, aus der Katharina sich vor drei Jahren gelöst hatte und findet nichts weiter als einen unendlichen Katalog von mutmaßlichen Möglichkeiten, an dem in jedem Kapitel mit Einträgen fortgeschrieben wird wie: "Wir könnten uns gerne auf eine Pilgerfahrt begeben. Wir könnten Handy-Klingeltöne komponieren, die Charts damit stürmen. Wir könnten ein leer stehendes Bürogebäude besetzen." (20) |
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Der Roman beginnt: "Auch das Meer ist nicht gut in Entscheidungen. Ständig ändert es seine Grenzen, fließt vor und zurück, läßt Dinge liegen und nimmt sie beim nächsten Mal dann doch wieder mit, das macht es ganz und gar unmöglich, beim Meer einen klaren Anfang auszumachen". Dieser Romananfang ist deshalb ein bißchen genial, weil die Beschreibung sich selbstreferentiell auf den Roman selbst bezieht. Auch die Protagonisten wissen nicht wohin mit sich, aber das wollen sie mit mit aller Gewalt wissen, was sehr schnell in das Paradox führt: "eine Ausnahmesituation war geplant gewesen" (158). Aus sich heraus wissen die Protagonisten ihr Handeln nicht zu motivieren, aber sich in Umstände zu bringen, in denen sie dann doch handeln müssen, verstehen sie ganz gut. Ultima ratio bleibt Irrationalität (erst Entführung, später dann Autoklau etc.), um dann via ratio wieder auf den "rechten Weg" zu kommen. Agieren können diese Gestalten nicht, dafür haben sie zu viele Möglichkeiten, aber reagieren auf die radikal eingeschränkte Zahl der Möglichkeiten müssen sie. Das tun sie ohne Not, und wenn es schon recht nett ist, ihnen dabei zuzusehen, so ist es noch netter, den trockenen Kommentaren des Erzählers dabei zuzuhören: " ... und ich war, soweit ich es beurteilen konnte, glücklich."(159) Damit hat der Autor es tatsächlich geschafft, ein originär poetisches Prinzip -- man denke an die Verknappungen der sprachlichen Möglichkeiten bei OuLiPo -- auf die Handlungsebene zu projizieren, um umso mehr die Sprache zum Handeln zu bringen, wenn auch in inverser Bedeutung: als Groteske des Banalen. |
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(Thomas Wägenbaur) |
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Christian Moser: Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton EllisBielefeld: Aisthesis 2005, 124 Seiten. |
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Wen es zumindest ein Stück weit wunderte, daß im ausgehenden 20. Jahrhundert Sir Anthony Hopkins gleich zweimal kassenfüllend den ästhetischen Kannibalen geben und die Anthropophagie so aus dem Genre der Splatter- und Horror-Filme höchst erfolgreich ihren Weg in den Mainstream Hollywoods finden konnte, der tut gut daran, einen Blick in Christian Mosers handlichen Band Kannibalische Katharsis zu werfen. Auf engem Raum bietet Moser hier sowohl die historische als auch die interdisziplinäre Perspektive, die es ermöglicht, den anthropologischen Diskurs über den Kannibalismus mit Fragen literarischer und filmischer Ästhetik sowie den Exzessen der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft zu verbinden. Ein solcher Zugang erklärt, wie Anthropophagie, gut bürgerlicher Kaufrausch und der Hunger nach sensationellen Bildern letztlich alle im gleichen Magen verdaut werden können. Möglich macht dies, so Mosers These, die Verbindung primitivistischer Auffassungen des Kannibalismus mit einer spezifisch westlichen Variante desselben, in der ein rücksichtsloses Verfahren ökonomischer Einverleibung im Medium ästhetischer Repräsentation als kathartisches Reinigungsritual inszeniert wird. |
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Zum Beleg dient hier zunächst James Cooks Begegnung mit den neuseeländischen Maori, an der sich exemplarisch die Geschichte des gefräßigen westlichen Blicks aufrollen läßt, der den Kannibalismus als Verkörperung des 'ganz anderen' Objekts entdeckerischer Begierde überhaupt erst konstruiert und ihn somit aus dem Netzwerk kultureller und symbolischer Praktiken herauslöst die für sein Verständnis unabdingbar sind. In der Schaulust, die Cooks wissenschaftlichem Umgang mit dem Phänomen des Kannibalismus aneignet, zeigt sich dabei die sublimierte eigene Eßlust, die die Schutzreaktion des Ekels nur oberflächlich verbirgt. In Cooks aufgeklärtem wissenschaftlichen Blick sieht Moser so die Horrorästhetik präfiguriert, die den Kannibalen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst zum Protagonisten des Horrorfilms und schließlich zur Ikone der Mainstreamkultur machen konnte. |
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Konterkariert ist diese Entwicklung mit der Analyse des skeptischen westlichen Gegendiskurses, der mit Montaigne ansetzt und dessen Hauptgewährsmann für Mosers Argumentation Joseph Conrad ist. Aus dieser Perspektive wird die Konfrontation mit dem Kannibalismus als heilsames Mittel der Selbstentfremdung und somit der Selbsterkenntnis entwickelt, ein erkenntnis- und kulturkritischer Vergleich, in dem die expansiven Bräuche der westlichen Eroberer -- im Hunger nach materieller Bereicherung als figurativer Kannibalismus verstanden -- gegenüber dem letztlich gesellschaftserhaltenden 'fremden' Ritual der Anthropophagie als die verstörendere Praxis erscheinen. |
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Beide Diskurse sind dabei nicht zuletzt über ihre Verbindung zum ökonomischen System des Kapitalismus miteinander verknüpft. Sieht James Cook die Chance zur Rettung der kannibalistischen Maori in ihrer Einbindung in die westliche Warenökonomie und der damit verbundenen unvermeidlichen 'Zivilisierung' qua Objektivierung des Konsums, macht Conrads literarischer Entdecker Marlow deutlich, daß die koloniale Gier nach Macht und Besitz, die der kapitalistische Diskurs entfesselt, letztlich die weitaus radikaleren Kannibalen produziert. Diese Verschränkung von Kannibalismus und ökonomischem System legt auch der Rekurs auf den anthropologischen Diskurs nahe, wenn Lévi-Strauss, wie Moser erinnert, in Tristes Tropiques den Kannibalismus zum maßgeblichen Unterscheidungskriterium zwischen indianischen und europäischen Gesellschaften macht. Die Anthopophagie ist dabei Teil einer auf die Bindung von Tauschpartnern abzielenden Gabenökonomie und hat die Neutralisierung von für den Gesellschaftskörper bedrohlichen Individuen durch Einverleibung zum Ziel. Dem steht nach Lévi-Strauss die Antropemie (von gr. emein, erbrechen) industrieller Gesellschaften gegenüber, die unerwünschte Elemente vom Gesellschaftskörper abtrennt, in Gefängnissen und anderen Einrichtungen isoliert, und somit ausstößt. Die mit diesem 'Erbrechen' verbundene Verobjektivierung liegt dann auch der kapitalistischen Expansion zugrunde, deren Transformation systemfremder Elemente in Waren die totale Aneignung und Verschlingung von einzelnen Personen und ganzen Kulturen umso rigoroser möglich macht. Der Kannibale als das Spiegelbild des Konsumenten macht dann gerade die Eigenschaften sichtbar, die Letzterer am Anderen zu sehen verlangt, an sich selbst aber nicht bewußt machen darf. |
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Ist das kulturell Andere aber erst einmal physisch vernichtet oder assimiliert, muß man es als künstliche Folie reproduzieren, und auch so ist der Weg ins Kino und zur Kamera als Auge des Konsumenten gebahnt, das sich hemmungslos alles einverleiben und in Bilder verwandelt, wieder abstoßen kann. Moser kennzeichnet diesen gleichzeitig ökonomischen und ästhetischen Mechanismus in einer Verkoppelung von Lévi-Strauss' Kategorien als bulimisch: das kapitalistische System erbricht sich hier in Form von Bildern, um derart 'gereinigt' dann umso mehr konsumieren zu können. Diesem Prozeß unterliegt eine Ästhetik, die Moser treffend als 'neoliberal' charakterisiert und die er in detaillierten Analysen von Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust und Thomas Harris' Hannibal Lecter-Trilogie ausarbeitet. Sieht Deodato den Horror-Film in letzter Konsequenz als eine Art Sühneritual, in dem der moderne Mensch durch den exzessiven Konsum grausamer Bilder wieder zur Unschuld zurückgeführt werden soll, legt Harris die Heilung spätkapitalistischer Traumata durch totale kannibalistische Wunscherfüllung nahe. Die unsichtbare Hand des Marktes reguliert so dann auch den kannibalistischen Strom der Bilder, und der uneingeschränkte Konsum kann unhinterfragter Selbstzweck bleiben, der letzten Endes zum Wohle aller führt. |
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Diesen nicht nur von Deodato und Harris propagierten Mythos der Heilkraft des hemmungslosen Konsums sieht Moser von Brett Easton Ellis entlarvt, der in American Psycho gerade diese Ideologie als die Illusion überführt, mit deren Hilfe das System unaufhörlichen und unstillbaren Hunger nach Waren produziert. Patrick Bateman, kannibalistischer Serienkiller und Protagonist des Romans, macht dabei die inherente Gewalt des kapitalistischen Diskurses dadurch sichtbar, daß er alle Metaphorik kurzschließt und mit dem Bild vom kannibalistischen Konsum tödlichen Ernst macht. Bateman sucht dabei die bloßen Oberflächen der Konsumgesellschaft zu durchdringen, die die Existenz einer Tiefendimension vorgaukeln, die sich für das Subjekt jedoch unentwegt als unerreichbar erweist und so eine Konsumspirale produziert, die von einer Sehnsucht nach Tiefe angetrieben ist, aber immer nur von Oberfläche zu Oberfläche führen kann. In der Logik des Systems ist Bateman's Versuch, den Weg unter diese Oberfläche mörderisch und gewaltsam doch noch zu finden, dann nur konsequent: Der irreduzible Mangel, der den Konsum vorantreibt, erfordert zu seiner unmöglichen Befriedigung Gewalt, physisch wie psychisch, am eigenen wie am anderen Selbst. |
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Unweigerlich schließt Kannibalische Katharsis dann mit der Frage, ob diese Entlarvung und Inszenierung der dem kapitalistischen System inherenten kannibalistischen Gewalt, wie sie Easton Ellis durchführt, noch als heilsamer Schock verstanden werden kann, oder ob sich das grundlegende Problem hier nicht nur auf einer weiteren Ebene wiederholt. Moser zeigt sich ob der möglichen Wirkung einer solchen Kritik zurecht skeptisch. Auch die entblößte Wahrheit, so sein Fazit, das des Beleges kaum bedarf, läßt sich zur konsumierbaren Ware transformieren und in dieser Form in aller Brutalität wieder vermarkten. Wahrhaft Unverdauliches dürfte es da kaum noch geben. |
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(Alexander Schlutz) |
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Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des HermetismusMünchen: C. H. Beck 2005, 214 Seiten. |
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In der Beckschen Reihe ist wieder einmal ein Einführungsbuch herausgekommen. Eine gute Nachricht? Eine gute Nachricht! Denn im Gegensatz zu vielen Vertretern dieses heute so beliebten Genres geht es im Geheimnis des Hermes Trismegistos um ein Thema, das der klärenden Einführung wirklich bedarf: den Hermetismus. Jedoch geht es dem Autor Florian Ebeling nicht darum, den Hermetismus "auf den Begriff" zu bringen, sondern um einen Abriß dessen, "was unter Hermetismus zu bestimmten Zeiten und in wechselnden kulturellen Umfeldern verstanden wurde." Am Ende dieser "Geschichte des Hermetismus" von der Antike bis in die Gegenwart fällt dem Leser auf die Frage 'Was ist Hermetismus?' zwar sehr viel ein. Gleichtzeitig rückt in dieser Fülle eine eindeutige Antwort aber in weite Ferne. |
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Das erste Kapitel ist der Antike gewidmet. Die Figur des Hermes Trismegistos wird als Verschmelzung zweier Gottesbilder einführt, des ägyptischen Gottes Thot und des griechischen Gottes Hermes. Hermes, der dreimal größte, wie sein Name übersetzt heißt, hat in den antiken Quellen viele Identitäten: Einmal ist er ein Weiser, der das Urwissen in steinerne Stelen meißelte, um es vor der Sintflut zu retten, gleichermaßen ist er ein König und Gesetzgeber, dann aber auch eine Art Religionsstifter, der Kulte einrichtete. Schließlich gilt er ebenso als Astrologe und Magier. Gemeinsam ist all diesen Figuren nur die ägyptische Herkunft und das Wirken in grauer Vorzeit. Wie unter Heroen der Urzeit üblich, schillert die Hermesfigur stets zwischen Gott und Mensch. |
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Entstanden ist diese mythische Gründergestalt im hellenisierten Ägypten der Zeit nach der Eroberung Alexanders. Daran knüpft sich die Frage, ob der antike Hermetismus nun eher ägyptisch oder eher griechisch sei. So manichäisch diese Frage klingen mag, so heftig wurde unter Philologen darum gestritten. Doch gerade an solchen Stellen treten die Stärken des zurückhaltenden und sachlichen Stils des Autors zutage. Ebeling beschränkt sich weitgehend darauf, die Diskussion zu referieren, anstatt eine eigene Meinung zu einer Frage in den Vordergrund zu rücken, bei der es vor allem interessant ist, warum sie gestellt wurde. Wie fest müssen die gegenseitig sich ausschließenden Stereotype eines Griechenlands als Ursprung der Philosophie und des Rationalen und eines Ägypten als Ursprung der Religion und des Mystischen sitzen, um einer geistigen Tradition wie dem Hermetismus, in der beides so offensichtlich nicht voneinander zu scheiden ist, die doppelte Herkunft zu versagen? |
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Im folgenden, das Mittelalter behandelnden Teil widerlegt der Autor die herkömmliche Vorstellung, derzufolge Hermes Trismegistos nach einer Zeit der Vergessenheit erst in der italienischen Renaissance wiederentdeckt worden sei. Interessant ist hier die gegensätzliche Beurteilung des Hermes durch die mittelalterlichen Gelehrten und Theologen. Entweder wird er als Wegbereiter des Christentums verstanden, oder aber umgekehrt als verdammungswürdiger Heide, der sich mit Magie und Götzendienst befaßt. Von solchen scholastischen Grabenkämpfen frei ist die eher alchemistische arabische hermetische Tradition. Einige der wichtigsten Texte der späteren europäischen Alchemie wie die Tabula Smaragdina sind lateinische Übersetzungen arabischer hermetischer Texte aus dem 12. Jahrhundert. |
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Was die neuzeitliche Geschichte des Hermetismus betrifft, betont Ebeling die bemerkenswerte Tatsache, daß man es mit zwei weitestgehend unabhängigen Traditionen zu tun hat. Die eine entsteht im Kontext der norditalienischen Renaissance und wird 1463 durch Marsilio Ficinos lateinische Übersetzung des corpus hermeticum eingeläutet, einer Sammlung hermetischer Texte, die meist aus der Spätantike stammen, damals aber noch einer ehrwürdigen Frühzeit zugeschrieben wurden. Als Begründer der Philosophie und Zeuge des Universalismus der Religion gefeiert, erscheint Hermes Trismegistos bei Renaissance-Philosophen wie Pico della Mirandola auf derselben Stufe wie der 'wiederentdeckte' Platon. Von dieser philosophisch-philologisch ausgerichteten Rezeption hermetischer Texte unberührt, entwickelt sich nördlich der Alpen im selben Zeitraum die als ars hermetica bezeichnete Alchemie. Sie beruft sich zwar gleichermaßen auf Hermes Trismegistos als Gründerfigur, jedoch sind für diese zweite hermetische Tradition ganz andere Texte maßgebend, darunter vor allem die (arabische) tabula smaragdina. Die zentrale Figur ist hier Paracelsus, der gar Hermes secundus genannt wurde. |
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Die Geschichte des Hermetismus in den darauffolgenden Jahrhunderten stellt sich bei Ebeling als die Geschichte eines sich wandelnden Verhältnisses zu den in Entwicklung begriffenen Wissenschaften dar. Die Perspektive, die Ebeling hier gewählt hat, wird dem Anspruch des Autors, den Hermetismus in seinem jeweiligen kulturellen Umfeld zu betrachten, vollkommen gerecht, und macht gleichzeitig das große Potenzial deutlich, das in einem solchen Ansatz steckt. Die Integration der hermetischen Schriften in den 'Kanon' der antiken Philosophen und die damit verbundene philologische Bearbeitung wird ihnen zum Verhängnis, als im Jahre 1614 durch den Philologen Casaubon das angeblich so hohe Alter der Schriften des corpus hermeticum bestritten wird, und die Schriften als Fälschungen 'entlarvt' werden, mit welchen Christen ihren heidnischen Zeitgenossen die christliche Lehre hätten nahebringen wollen. Seine Argumentation gründet sich, ganz im Sinne moderner Philologie, auf inhaltliche Entsprechungen mit den Evangelien und auf einen Sprachgebrauch, der nur in nachchristlichen griechischen Texten belegt sei. Einige Jahrzehnte später trifft seitens des Medizinprofessors Conring ein ähnliches Mißtrauensvotum auch die Berufung auf Hermes als Gründungsvater der paracelsischen Medizin. Nachdem sich Anhänger des philosophisch-theologischen und des alchemistischen Hermetismus anfangs mit ihren Kritikern noch auf eine 'akademische Diskussion' einließen, bekamen im Laufe des 17. Jahrhunderts die Kritiker mehr und mehr die Oberhand, und die Positionen der Hermetiker wurden marginalisiert. |
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Ebeling zeigt aber gleichfalls, daß die Trennungslinie zwischen Hermetismus und Wissenschaft keineswegs so klar zu ziehen ist, wie es die positivistische Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts gerne hätte. Heroen der Aufklärung wie etwa Newton hatten sich intensiv mit alchemistischen Schriften auseinandergesetzt. Vor allem aber legt er dar, wie mit dem Ende der 'akademischen Wertschätzung' und dem verlorenen Ruf des Hermes Trismegistos, die publizistischen Erfolge hermetischer Schriften eher wachsen, als zurückgehen, wenn nun auch bei einem nicht-akademischen Publikum. Man möchte glauben, daß die Marginalisierung des Hermetismus gegenüber den Naturwissenschaften erst den Grund legt für eine zweite Karriere des Hermes Trismegistos, die sodann die Züge des Esoterischen, Okkultistischen annimmt, welche heute im alltäglichen Verständnis für diese Figur kennzeichnend sind. Hermes kann erst zum Gegenpol der 'durchrationalisierten' Welt werden, als er von den Instanzen der rationalen Wissenschaften abgelehnt wird. Die Wendung, die die Geschichte des Hermetismus damit bekommt, ist umso bemerkenswerter, als von einer solchen Polarisierung in der Antike bis weit in die Neuzeit hinein in den hermetischen Schriften nichts zu finden ist. |
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Der diachrone Schnelldurchlauf, den das Buch liefert, lehrt, neben sehr vielem anderem Wissenswerten, wie wenig das, was sich "Hermetismus" nennt, inhaltlich determiniert und vergleichbar sein muß, um sich trotzdem durch die Zeiten hinweg auf denselben Ursprung zu berufen. In der Tat schlägt der Leser mit jedem Kapitel einen neuen Roman auf, der mit dem vorigen gewissermaßen nur die Hauptfigur gemein hat. Warum, darf man fragen, handelt es sich dann überhaupt um einen 'Ismus', oder -- wie es im Vorwort von Jan Assmann heißt -- um einen "Unterstrom des abendländischen Kulturgedächtnisses"? Die Frage, was nun eigentlich, wenn überhaupt, den Hermetismus im Innersten zusammenhält, bleibt auch in diesem (sehr lesenswerten) Vorwort ausgespart. |
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So spannend der rein rezeptionsgeschichtliche Blick auf die großen Themen der verstaubten Geistesgeschichte sein kann, er drückt sich davor, in dem Spiel, das zu beobachten ihm so viel Freude bereitet, selber mitzumischen. Statt eine eigene Position einzunehmen, enthält er sich einer Diskussion der Begriffe, einer Diskussion dessen, was überhaupt erst Gegenstand einer Rezeptionsgeschichte werden kann. Doch dieses grundsätzliche Problem des Genres im Allgemeinen soll nicht diesem verständlichen, stoffreichen und klugen Buch zur Last gelegt werden. Als Einführung und Abriß erfüllt es bestens seinen Zweck |
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(Nikolaus Dietrich) |
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Knabel, Klaudia; Rieger, Dietmar; Wodianka, Stephanie (Hrsg.): Nationale Mythen -- kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der ErinnerungGöttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 292 Seiten. |
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Frankreich im Frühjahr 2006: von Gleichheit und Brüderlichkeit kann keine Rede sein. Die bürgerliche Jugend und ihre Unterstützer sind auf den Straßen. Sie kämpfen über Wochen hinweg gegen den Gesetzesentwurf zur Lockerung des Kündigungsschutzes für jüngere Arbeitnehmer im besonderen und gegen prekäre Arbeitsverhältnisse im allgemeinen. Der Herbst zuvor ist ebenso heiß: Jugendliche aus Immigrantenfamilien machen ihrer Wut über die Lebensbedingungen in den Banlieues Luft; vielerorts kommt es zu Gewalttätigkeiten. Handelt es sich bei diesen Vorgängen lediglich um Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Arbeits- und Integrationspolitik? Laut eines Interviews der Süddeutschen Zeitung vom 31.3.2006 mit dem französischen Soziologen Michel Wieviorka geht es um mehr. Was die beiden so unterschiedlichen sozialen Gruppen umtreibe, sei in beiden Fällen eine fundamentale Verunsicherung und Zukunftsangst angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Desintegration und der zerfallenden Schutzmechanismen des Sozialsystems. Das Bemerkenswerte dabei: Im kollektiv-imaginären Diskurs der Franzosen stehe dieser Verunsicherung nach wie vor der Mythos von Republik und Nation als kulturelles, politisches und soziales Integrationsmodell gegenüber. Mancherorts werde der Mythos während diesen unruhigen Zeiten in besonders blumigen Sonntagsreden verkündet. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: für Wieviorka stehen alle drei Schlagworte der Großen Revolution mittlerweile für einen "falschen Mythos". Ob dieser falsche, oder präziser überholte Mythos sich unter den konvulsiven Gewaltausbrüchen im kollektiven Gedächtnis auflöse, könne er nicht vorhersagen. |
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Ohne diese zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung voraussehen zu können, sind die Vorgänge in Frankreich ein Beispiel für die Aktualität der Problematik, der der 23. Band aus der Reihe Formen der Erinnerung seine Aufmerksamkeit widmet. Denn Wieviorkas Gedanke an eine mögliche Auflösung des französischen Revolutionsmythos weist auf Erklärungsbedarf hin. Anscheinend liegen selbst für den Fachmann Antworten nicht auf der Hand. Worum also geht es? Die Rede ist von der Zukunft nationaler Mythen und kollektiver Symbole, von Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung im Kontext von Veränderungen seit der Moderne bis zur Gegenwart. Was geschieht mit nationalen Monomythen, wenn sich Neuerungen in deren Bezugssystemen ergeben? Welche Auswirkung haben neue Referenzprobleme auf die Bedeutung von kollektiven Symbolen? Welche Rolle spielen bei derartigen Vorgängen die Medien in ihren unterschiedlichen populären und künstlerischen Formen, derer es zur Erinnerung von Mythen und Symbolen notwendig bedarf? Zu diesen Fragen bietet der Sammelband eine Palette von zwölf thematisch facettenreichen wissenschaftlichen Aufsätzen: Vom Mythos der 'deutschen Frau' (Wulf Wülfing), über historische Identifikationsfiguren im französischsprachigen Kanada (Hans-Jürgen Lüsebrink) und die Erinnerungspolitik in postkolonialen afrikanischen Staaten (Winfried Speitkamp), bis zu Untersuchungen zu Allegorien der Freiheit in der französischen Tradition (Joseph Jurt), zu dem Bismarck-Mythos im nationalsozialistischen Spielfilm (Rainer Rother) und schließlich einer Analyse von Erinnerungskonkurrenzen, die an der ästhetischen und allegorischen Gestaltung eines Denkmals für den Ersten Weltkrieg entflammen (Andreas Wirsching). |
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Doch warum überhaupt die erinnerungskulturelle Funktion von nationalen Mythen und kollektiven Symbolen erforschen, fragen die Einleitung und die erste der drei Sektionen des Bandes selbstkritisch und provozierend. Sind das nicht ohnehin Auslaufmodelle, angesichts der komplexen politischen, sozialen, wirtschaftlichen Veränderungsprozesse, die allerorten unter dem Modewort Globalisierung enggeführt werden? Der rote Faden und die argumentative Stoßrichtung, die die Aufsätze miteinander verknüpfen, finden sich ganz im Gegenteil zu dieser Annahme in der Vermutung, daß nationale Mythen und Symbole, wenn sie unter den Druck eines sich verändernden Kontextes geraten, im allgemeinen komplexe Umdeutungsprozesse und Verformungen durchlaufen. Meist behielten sie ihren Platz im kollektiven Gedächtnis, allerdings würden sie mit erweiterten Bedeutungen und Funktionen versehen, und man erinnere sich ihrer bei Betonung anderer Mytheme, in veränderten medialen Formen und in neuen Interessengruppen. Derartige Veränderungen detailliert nachzuzeichnen, schreibt sich der Band auf die Fahnen. Die zweite und dritte Sektion befassen sich entsprechend mit "(Um-)Deutungsprozesse[n] und Erinnerungskonkurrenzen", mit "[m]ediale[n] Vermittlungen und Objektivationen des Erinnerns" (S. 5f.). |
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Yves Bizeul nimmt die Herausforderung an, grundlegende Transformationstendenzen im System politischer Mythen vor dem Hintergrund des neuen méta-récit Globalisierung zu skizzieren. Beispielsweise gewinne in einer Welt, in der nationalstaatliche Politik über zunehmend eingeschränkte Lenkungsmöglichkeiten verfüge, ein Mythos an Attraktivität, wie sie die biotechnische Optimierung des Menschen durch die Naturwissenschaften biete. Mit dem Ende des Kalten Kriegs starte der Mythos vom Kampf der Kulturen seine Karriere, der durch die Attentate auf das World Trade Center aus dem wissenschaflichen Diskurs herauskatapultiert und zum geflügelten Wort in Massenmedien und Alltagskommunikation werde. Als Ergebnis des Beitrags steht neben Kritik und Korrektur prominenter Thesen Lyotards u.a. die Erkenntnis, daß die nationalen Monomythen der Vergangenheit an Wirksamkeit verlören. Zugleich entstehe jedoch eine Vielzahl politischer Mythen kleiner bzw. mittlerer Reichweite, die als solche flexibler an sich ändernde Gegebenheiten angepaßt werden könnten. |
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Weniger summarisch angelegt als die übrigen Aufsätze und daher als Forschungsskizze tituliert, gibt sich der spannende Beitrag Claus Leggewies. Das Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes läßt sich etwa so formulieren: Wie erinnern sich Menschen mit hybriden Identitäten an die nationalen Symbole und Mythen ihrer Herkunftsländer einerseits und ihrer neuen Heimatländer andererseits? Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die Rekonstruktion der Erinnerungsorte deutsch-türkischer Identität mittels des Konzepts einer kognitiven Landkarte. Bei diesem Vorhaben handele es sich um eine erste Sammlung und Sortierung, denn die Migrationsgeschichte stecke in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Etwa finde sich in dem repräsentativen Werk Deutsche Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze kein einziger Beitrag aus dem deutsch-türkischen Gesellschaftskreis oder allgemein aus der Migrationsproblematik. Leggewie unterscheidet fünf Grundkategorien (Bewußtseinselemente) einer mental map deutsch-türkischer Identität: Ethnie (ethnisch-parochiales Gedächtnis), Deutsch (dominante Wirtschaft und Gesellschaft), Kultur (symbolische Ebene), Global (Kultur- und Verhaltensmuster) und Universal (Normen und Werte). Jede dieser Kategorien umfaßt ihrerseits konkrete Beispiele, insgesamt 53. Im Fall der Kategorie Kultur sind dies etwa: Bilingualismus ('Kanak Sprak'), Outfit ('Schleier'), Ferien und Freizeit ('Bodrum'), Delinquenz ('Mehmet'), Moschee ('Milli Görüs'), usw. Vor allem für die Kategorien Ethnie, Deutsch und Kultur erläutert Leggewie, warum er dieses oder jenes Beispiel für erinnerungskulturell relevant hält. Visualisiert werden die Kategorien als Strahlen eines Fünfsternes. Über dessen einzelne Zacken gelangt man im Uhrzeigersinn von 1) den politisch-ökonomischen Ursachen des türkischen Massenexodus, über 2) die prekäre Stabilisierung einer 'Türkenkolonie' in den westeuropäischen Staaten zu 3) deren Hybridisierung und Reislamisierung in den nächsten Einwanderergenerationen, die damit 4/5 eine Art 'negative Integration' in die Weltgesellschaft vollzogen hätten. Wie hilfreich und erforderlich eine solche Mental-Map-Konzeption auch immer sein mag: insbesondere von diesem Beitrag des Bandes dürfte in in einschlägigen Diskursen noch zu hören sein. Zunächst, weil Leggewie einen Gegenstand untersucht, der bislang mit nicht vollständig überzeugenden Argumenten unter Historikern als für die wissenschaftliche Forschung noch zu sehr im Fluß galt. Dann aufgrund der vielfältigen Anschlußmöglichkeiten für weitere Reflexion. Schließlich wegen der wissenschaftlich bislang wenig, politisch aber umso heißer diskutierten Verbindung von erinnerungskulturellen Fragen und Migrationsthematik. Stichwort aktuelle deutsche Einwanderungsdebatte: Können Menschen nicht nur in ein Land, sondern können, sollen, müssen sie auch in die Geschichte dieses Landes einwandern? |
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Gleich vier Texte des Sammelbandes widmen sich dem Mythos der Johanna von Orléans. Das Teilprojekt "Jeanne d'Arc rediviva? Zum Platz eines alten Mythos in einer modernen Erinnerungskultur" des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen der Gießener Universität dokumentiert mit diesen Beiträgen weitere Früchte seiner Arbeit. Es handelt sich dabei um den Versuch, die kulturelle Evolution eines einzelnen, bedeutsamen Mythos (und die Koevolution seiner Varianten) bei einer zugleich hohen Anzahl an Beobachterperspektiven nachzuvollziehen. Nicht nur mit Blick auf die protestierenden französischen Jugendlichen und Immigranten und deren Lebenssorgen fällt es allerdings schwer zu glauben, daß die Heilige Johanna gegenwärtig noch eine wesentliche erinnerungskulturelle Funktion erfüllt. Warum also wird der Pucelle so viel Aufmerksamkeit zuteil? Wärmt der Band ein bereits lähmend oft diskutiertes Thema der Romanistik und stoffgeschichtlich arbeitenden Komparatistik erneut und auch noch mehrfach auf? Eine Umfrage von France-Soir aus dem Jahre 1999 vermittelt einen anderen Eindruck. Neben Karl dem Großen und Napoleon werde Johanna noch immer als die bedeutendste nationale Gestalt des Kollektivgedächtnisses eingestuft. Der Beitrag Stephanie Himmels führt ebenso vor Augen, daß sich der Johanna-Mythos unter globalen Vorzeichen einer erstaunlichen Vitalität erfreut: Die "bonne Lorraine" geht ihren Weg als magical girl der Nationen und der Medienwelt. |
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Um die erstaunliche Widerstandsfähigkeit des Johanna-Mythos seit fast zwei Jahrhunderten bis hin zum gegenwärtigen transnationalen Mythenwettbewerb zu erklären, greift Dietmar Rieger bis ins Mittelalter zurück. Auch hier mag man fragen, ob es tatsächlich erforderlich ist, so weit auszuholen. Die Antwort lautet ja, denn Riegers Konstellationsanalyse der historischen und narrativen Faktoren ist durchaus lohnend -- und das nicht nur für den Johanna-Mythos. Riegers Aufsatz trägt wesentlich zur Entwirrung des Problemhaufens aus Bezeichnungen wie Ent- und Remystifizierung, Bruch, Kontinuität, Persistenz, etc. im Kontext der Verlaufsgeschichte von Mythen im allgemeinen bei. |
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Klaudia Knabel pflegt u.a anhand des Spielfilms Das Mädchen Johanna (1935) von Gustav Ucicky einen komparatistischen Blick auf den Import der Pucelle nach Deutschland. Im erweiterten Fokus ihres Textes steht die Frage nach den Bedingungen transnationaler Karriere von Nationalmythen. Wie wird der Johanna-Mythos variiert, damit das französische Nationalsymbol für eine Eloge auf das Führerprinzip zur Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands herhalten kann? |
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Jüngere meta-mythische Dramen-Aktualisierungen der Johanna-Erzählung stellt Stephanie Wodianka unter Rückgriff auf die klassischen Mythentheorien Roland Barthes' und Claude Lévi-Strauss' vor. Spannend daran: Der Mythos wird nicht einfach fortgeschrieben, sondern operiert im Modus Selbstbeobachtung und hinterfragt also seine Funktion als Mythos. Den Verdacht, ein sich selbst beobachtender Mythos verliere seine mythische und mithin seine erinnerungskulturelle Funktion, gleich einem erklärten Witz, der nicht mehr witzig sei, bestätigt Wodianka nicht. Meta-mythische Reflexion und Renarration stehe vielmehr für eine Form der Erinnerung, die den Mythos an veränderten Referenzprobleme anpasse und weitertradiere. Beispielsweise wenn in dem Johanna-Drama des Autors Tim Staffel der Mythos im Kontext moderner Erinnerungskulturen dargestellt werde, die zwischen Nationenmodell, europäischer Einigung und Globalisierung ihre Identität neu zu definieren suchten. |
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Diese, wie auch die weniger ausführlich besprochenen Aufsätze des 23. Bandes der Reihe Formen der Erinnerung präsentieren Analysen auf hohem Reflexionsniveau. Sie bieten -- mit Ausnahme Leggewies -- jedoch keine allzugroßen Überraschungen. In konzeptioneller Hinsicht hätte mehr Geschlossenheit des Bandes erreicht werden können, wenn dieser ausschließlich auf nationale Mythen und kollektive Symbole im Kontext der Globalisierung ausgerichtet worden wäre. Der stattdessen maßgebliche Zeithorizont von der Moderne bis zur Gegenwart erlaubt zwar einen vielseitigen Zugang zum Thema, er führt im gegebenen Fall aber auch dazu, daß es zuweilen spekulativer Gedankengänge bedarf, um die konzeptionelle Funktion mancher Aufsätze zu ergründen. Dadurch verschenkt der Band argumentative Stoßkraft. Weiterhin geben die vier Beiträge zur heiligen Johanna dem Band eine thematische Schlagseite, die durch die anderen Texte kaum aufgefangen werden kann. Eine weitere, eigenständige und umfangreichere Publikation zu Thema Jeanne d'Arc wäre der sinnvollere Weg gewesen. |
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Der Sammelband bestätigt das seit Jahren ungebrochene Interesse unterschiedlicher Disziplinen an erinnerungskulturellen Fragestellungen. Bei romanistischer Grundausrichtung tragen hier die Medien-, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie die Germanistik zur interdiszipliären Diskussion per se interdisziplinärer Fragen bei. Von anderen Bänden zu erinnerungskulturellen Fragestellungen unterscheidet sich der vorliegende u.a. dadurch, daß nicht Begriffe im Mittelpunkt stehen, wie Erinnerungskultur, kollektives, kulturelles, kommunikatives, etc. Gedächtnis, lieux und milieux de mémoire oder die gute alte Tradition. Daß die für diesen Band zentralen Begriffe des nationalen Mythos und des kollektiven Symbols wie auch die diesen nahestehenden Konzepte (etwa das Mythem) geeignete Beobachtungswerkszeuge für verschiedene erinnerungskulturellen Phänomene sind, wird überzeugend deutlich. Auf Grundlagenbeiträge zu den beiden Begriffen (in denen etwa Thesen über die evolutionäre Funktion von Mythen vorgestellt würden) wird verzichtet. Definitorische Hinweise finden sich in einzelnen Aufsätzen (für den Mythos etwa bei Rieger, S. 175, und Bizeul, der eine ordnende, sinnstiftende, integrative, (de-)legitimierende und mobilisierende Funktion unterscheidet.). Eine partielle Lektüre begegnet diesen Abschnitten jedoch nur mit Glück. Beim Begriff des kollektiven Symbols wäre insgesamt mehr definitorische Handreichung zur Überprüfung des eigenen intuitiven Verständnisses wünschenswert gewesen (einige Hinweise bei Jurt, S. 115f.), etwa durch Verweis auf den Begriff Kollektivsymbol von Jürgen Link. Hervorzuheben ist, daß die Beiträge des Bandes ihre Grundbegriffe stets zuverlässig an Beobachterinstanzen, deren jeweilige Erinnerungsinteressen, an die spezifischen historischen Konstellationen und medialen Formen rückbinden, und also nicht, wie es andernorts zuweilen der Fall ist, der Mythos referenzlos vor sich hinwabert. |
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In Frankreich ist der Gesetzesentwurf zur Lockerung des Kündigungsschutzes mittlerweile vom Tisch. Doch Innenminister Sarkozy hat ein anderes brisantes Vorhaben zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes auf den Weg gebracht, das seitens verschiedener Gruppen bereits für heftigen Widerstand sorgt. Die sich abzeichnende Einwanderungsdebatte, so befürchten Medienberichte, könnte durchaus den Funken zu einem erneuten Brand in den Vorstädten liefern. Angesichts der hier vorgestellten Forschungen ist es unwahrscheinlich, daß im Kontext dieses Klimas der nationale Mythos der Großen Revolution einfach als überholter Mythos auf die Müllhalde der Geschichte geworfen wird. Nach der Lektüre Bizeuls, Leggewies, Riegers, Wodiankas und der anderen Aufsätze der vorliegenden Publikation wird der Mythos eher in vielfältigen Umdeutungen an die neuen gesellschaftlichen Realitäten angepaßt werden. |
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(Christoph Bock) |
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