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no. 23: bewußtseinserweiterungen -> editorial
 

editorial

Das Streben nach Bewußtseinserweiterung ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Es läßt sich als anthropologische Konstante mit unterschiedlicher Ausprägung in allen Kulturen finden. Im antiken Ägypten setzten die Menschen eine Vielzahl von Kräutern und Bieren und sogar Schlangengift ein, um halluzinogene Wirkungen zu erzeugen. Schamanen und Medizinmänner auf der ganzen Welt nutzen seit Jahrtausenden verschiedenste Drogen und Rituale, um sich in einen Trancezustand zu versetzen. Mit Hilfe dieser Praktiken gehen sie auf Seelenreise und suchen jenseitige Sphären auf. Viele Mystiker im frühen Christentum, buddhistische Mönche und andere spirituell Suchende bis heute verändern ihr Bewußtsein mit Meditation und sensorischer Deprivation, um zu Erleuchtung und damit Befreiung zu gelangen.

Ein auch außerhalb religiös-spiritueller Kreise wachsendes Interesse an den bewußtseinserweiternden Aspekten psychogener Drogen läßt sich zunächst vor allem in der Literatur des 19. Jahrhundert wahrnehmen. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts dann ist der Konsum von Drogen in verschiedensten intellektuellen Kreisen als Stimulans künstlerischer Produktion bereits eine verbreitete Praxis. Aldous Huxleys legendärer Aufsatz The doors of perception (1959) beruht auf einem Selbstversuch mit Mescalin und geht der psychedelischen beat generation noch um Jahre voraus. Und Ernst Jünger, der gemeinsam mit Albert Hofmann als Entdecker des LSD mit dieser Droge experimentierte, prägte schließlich für das Erforschen des eigenen Bewußt- und Unterbewußtseins mit Hilfe von Drogen oder anderer Techniken den Begriff der 'Psychonautik'.

Angeführt von Timothy Leary verselbständigte sich der Gebrauch von LSD in den folgenden Jahren als Drop-out- und Partydroge einer ganzen Generation. Als dann die Risiken dieses unbedarften Konsums allmählich offenkundig wurden und die Politik restriktiver, traten andere, zunehmend synthetische Drogen ihre Nachfolge an. Mittlerweile ist auch die Euphorie über die 'Herz erweiternde' Pille Ecstasy deutlich abgeklungen. Aber sind die Erwartungen an derlei Hilfsmittel auch nüchterner? Wo also stehen wir jetzt, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend? Wohin führt unser Weg? Die 23. parapluie-Ausgabe beleuchtet exemplarisch einige neuere Fragestellungen.

Obschon es nach wie vor starke Berührungsängste zwischen Psychonauten und anderen Bewußtseinsforschern gibt, legen es mehrere jüngere kulturelle Entwicklungen nahe, von einer 'neuen' Psychonautik zu sprechen. So hat die interdisziplinäre 'kognitive' Revolution in den Wissenschaften der letzten 25 Jahre neue und tiefgreifende Aufschlüsse über die Struktur menschlichen Bewußtseins geliefert, vor deren Hintergrund auch Drogenerfahrungen in einem neuen Licht erscheinen. Wie Sebastian Schulz am Beispiel von Cannabis darlegt, böte eine systematische Analyse der bewußtseinserweiternden Effekte psychoaktiver Substanzen großes Potential für weitere Erkenntnisse über die Funktionsweise unseres Bewußtseins und seiner kognitiven Strukturen.

Wie lassen sich im Gegensatz zu diesen, mehr oder weniger kontrolliert durch die Einnahme halluzinogener Stoffe hervorgerufenen Bewußtseinszustände Visionen und andere mystische Erfahrungen aus wissenschaftlicher Sicht erklären? Eckart Straube verweist auf das in jedem von uns wohnende Halluzinationspotential und kommt in einem religionspsychologischen Rückblick zugleich den Ursachen für die aktuellen Austrittswellen bei den großen christlichen Kirchen näher auf die Spur. Manche gehen in ihrer neuen religiösen Suche dabei so weit, daß sie in psychisch auffälligen Kindern Träger eines höheren Bewußtseins zu erkennen meinen, die uns zu einer stärker spirituell und intuitiv veranlagten Menschheit führen sollen. Ein Trend, der das Eltern-Kind-Verhältnis auf den Kopf stellt, und von Gerrit Breeuwsma kritisch hinterfragt wird.

Eine andere Entwicklung geht dahin, mit Hilfe bewußtseinsverändernder Substanzen die Fähigkeiten unseres Denkens zu verbessern. Wie Stephan Schleim beobachtet, hat die pharmazeutische Industrie neben dem Doping im Leistungssport nun auch das mind doping und andere lifestyle drugs entdeckt, und zahlreiche, vor allem junge Leute folgen diesem Trend, um in Konkurrenzsituationen zu bestehen. Daß bislang kein synthetischer Wirkstoff ohne toxische Nebenwirkung geblieben ist, wird angesichts der Versuchung, schnell leichter und besser zu leben gern ausgeblendet. Für radikale Utopisten wie den Begründer der Extropianer Max More dagegen geht es um weit mehr. Für ihn sind smart drugs zur effizienteren und gesünderen Ausschöpfung unserer geistigen Potentiale nur der erste Schritt zu einer umfassenden Transformierung der menschlichen Spezies, die auch die Neuprogrammierung neuronaler Bahnen im Gehirn mit einschließt. Dahinter steht ein Menschenbild, das zum Zwecke der Bewußtseinserweiterung auch vor Biotechnologien nicht Halt macht und danach strebt, sich selbst neu zu erschaffen -- als Supermensch.

So neu die Techniken sein mögen, es verbergen sich häufig altbekannte Sehnsüchte dahinter. In den jeweils gewählten Praktiken spiegelt sich der Mensch in seiner Einsamkeit und Haltlosigkeit, seiner Angst vorm Tod, seinem Bedürfnis nach Grenzerfahrungen, seinen Allmachtsfantasien. Daran wird sich wohl auch im dritten Jahrtausend nichts ändern.

Anke Bahl
Sebastian Schulz

 

autoreninfo 
Anke Bahl stammt aus dem Norden Deutschlands und studierte Empirische Kulturwissenschaft, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Eugene, Oregon. Inzwischen ist sie im Rheinland zu Hause und lebt in Bonn. Nach Tätigkeiten im Bereich der Medienforschung und Europäischen Jugendbildung ist sie nun schon viele Jahre in der Beruflichen Bildung unterwegs. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Betrieblichen Bildung und Ausbildungskultur. Verschiedene Veröffentlichungen.

Dr. Sebastian Schulz, Jahrgang 1969, studierte Philosophie und Linguistik an der Universität Tübingen und an der University of North Carolina at Chapel Hill. Er promovierte im Jahr 2000 mit einer Arbeit Alien Minds, in der er eine radikale Position innerhalb der gegenwärtigen analytischen Bewußtseinsphilosophie analysiert und in weiten Teilen widerlegt (erschienen 2002 beim Mentis Verlag). Seit seinem 18. Lebensjahr arbeitet er als freier Fotograf; mehrere Serien seiner meist großformatig aufgezogene Fotografien wurden seit dem Jahr 2001 immer wieder an verschiedenen Orten ausgestellt, zuletzt in der Art Gallery Festl & Maas Reutlingen. Zur Zeit arbeitet er in der Stuttgarter Agentur BPPA als Konzeptioner, als strategischer Berater für die Landesstiftung Baden-Württemberg sowie als freier Autor und Fotograf.
Homepage: http://www.philographie.de
E-Mail: bastian_de@yahoo.de

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