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no. 23: bewußtseinserweiterungen -> indigokinder
 

Du kommst also von einem anderen Planeten?

Über Indigokinder, Kinder einer Neuen Zeit, Hochsensible und andere Mystifizierungen

von Gerrit Breeuwsma

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* literatur
* druckbares
* diskussion

Kinder geben Erwachsenen immer wieder Rätsel auf. Dieses Phänomen scheint sich in unserer von Informationen überfluteten Welt noch zu verschärfen, denn ein neuer Typus von Kindern ist unter uns, Indigokinder genannt. Es handelt sich um Jungen und Mädchen, für die psychologisch neue und ungewöhnliche Züge charakteristisch sind. Manche meinen, Indigokinder kämen aus einer anderen Dimension. Eine eher irdische Version findet sich in der Beschreibung von hochsensiblen Kindern durch die Psychotherapeutin Elaine N. Aron. Allen gemeinsam ist jedoch die Überzeugung, daß uns diese Kinder in vielem voraus sind. Das Bedürfnis nach diesen Mystifizierungen läßt sich zurückführen auf Veränderungen in der Wahrnehmung des Verhältnisses von Kind- und Erwachsensein.

 

Ein Mysterium

Der Film The Sixth Sense (1999) erzählt die Geschichte eines Jungen, der mit Problemen ringt, bei deren Bewältigung die Erwachsenen in seiner Umgebung ihm zwar helfen wollen, aber nicht können. Und wie es bei Problemen ist, bei denen Erwachsene nicht weiter wissen: Der Junge gelangt in die Behandlung eines Kinderpsychologen. Diesem gelingt es anfangs auch nicht, der Ursache für sein verstörtes Verhalten auf die Spur zu kommen. Das Kind ist ein Mysterium. Im Lauf der Zeit wird allerdings deutlich, daß der Junge etwas verschweigt, teilweise, weil es zu erzählen zu schlimm ist, aber auch weil er, nicht ganz zu Unrecht, befürchtet, daß die Erwachsenen seine Geschichte doch nicht glauben werden. Kindern, denen man nicht glaubt, bleibt nicht viel anderes übrig, als sich zurückzuziehen und zu schweigen.

Allmählich gelingt es dem Psychologen, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen, so daß dieser ihm erzählt, er könne Tote sehen "I see dead people". Zu bestimmten Zeiten, meist während der Nacht, melden sich Verstorbene bei ihm. Dies kündigt sich dadurch an, daß ihm eiskalt wird. Er entkommt den Toten, indem er in ein kleines Zelt kriecht, in das er Kruzifixe gehängt hat. Auf diese Weise hält er die Toten auf Distanz.

Der Psychologe fühlt mit dem Kind mit, aber denkt sich berufshalber das Seine. Die Halluzinationen deuten in Richtung einer ernsten Psychopathologie -- Wahn, Schizophrenie? Er fürchtet, daß eine klassische Therapie -- Gespräche über Traumata, unbewußte Wünsche, Kinderängste -- hier nichts wird ausrichten können. Und so schwer es ihm fällt, er ist kurz davor, seine Bemühungen zu beenden, im Wissen, daß dann für den Jungen nichts mehr bleibt als die harten Maßnahmen: Schwere Medikation, stationäre Aufnahme und so weiter.

 

Der Schlüssel ist Vertrauen

Es ist später Abend, der Wind weht ums Haus, sonst ist niemand zu Hause. Schon ein paar Mal haben die vermaledeiten Toten einem einen fürchterlichen Schreck eingejagt. Unwillkürlich hofft man, daß der sympathische Therapeut in Gestalt von Bruce Willis seine Diagnose überdenken, seine professionellen Skrupel überwinden möge, denn so geht es nicht weiter. Glücklicherweise tut sich dann auch etwas. Der Therapeut wendet all seine Sensibilität auf, um sich in die Welt des Kindes zu versetzen. Darin existiert offenbar noch eine 'andere Welt', jene der Verstorbenen, von denen manche nicht zur Ruhe kommen können. Diese belästigen dann empfindsame Lebende wie den Jungen mit ihren Besuchen.

Der Psychologe und der Junge versuchen schließlich, ihre wechselseitigen Vorurteile und Ängste zu überwinden, um zusammen den Toten entgegenzutreten. Diese irren nicht aus Spaß herum, sondern weil sie noch etwas an das Leben bindet. Etwas, das sie in ihrem Leben nicht haben abschließen können, und wofür sie sich nun an Lebende wenden müssen. Durch das Erhören ihrer Bitten können die Toten aufhören herumzuirren und endlich zur letzten Ruhe finden.

 

Schwierige Fragen

The Sixth Sense ist ein intelligent gemachter Film. Die Klischees aus dem Horrorgenre stehen den dramatischen Verwickelungen in keinster Weise im Weg. Oft fallen Horrorfilme der Übertreibung zum Opfer. In diesem Film wird die Spannung subtil aufgebaut; das Grauen, welches dem Jungen die Nachtruhe raubt, wird nur in kleinen Portionen vermittelt. Es wird mehr angedeutet als gezeigt, während der überraschende Schluß des Films alles wiederum auf den Kopf stellt. Dann erkennt sich der Psychologe selbst als einen der Toten. Vorher aber kann man kaum anders, als Mitleid für das Kind und Sympathie für den Psychologen zu empfinden. Zusammen mit dem Jungen verfolgt man angespannt die Strapazen der Toten. Trotz aller (professioneller) Skepsis: Man hofft, daß der Psychologe dem Jungen glaubt und nicht in die 'Falle' der psychiatrischen Diagnose gerät. Für die Dauer des Films ist das Bestehen der anderen Welt real.

The Sixth Sense ist nicht nur spannend und gut gemacht. Der Film wirft auch etliche Fragen auf. Worum geht es darin eigentlich? Geht es um Kinderängste, wie reell sie sein (oder sich anfühlen) können, und wie leicht dabei die Grenzen von Phantasie und Realität überschritten werden? In diesem Fall wäre die Geschichte eigentlich eine Parabel und müßte als ein Plädoyer für Verständnis und Einsicht in Kinderängste aufgefaßt werden. Oder hält der Regisseur, M. Night Shyamalan, es für möglich, daß es tatsächlich mehr gibt zwischen Himmel und Erde als unser säkulares Weltbild uns glauben läßt, und daß Kinder dazu eher Zugang haben als Erwachsene? Der Schluß des Films scheint das nahezulegen, erweist sich doch hier der Psychologe als derjenige, der seine eigene Wirklichkeit nicht zu sehen vermag. Am Ende kehrt sich das Verhältnis zwischen den beiden um. Auf einmal ist es nicht mehr der Psychologe, der dem Kind seine Hilfe anbietet, sondern er ist umgekehrt auf die Fähigkeiten des kleinen Jungen angewiesen. Müssen Erwachsene erst ihren rationalen Ballast abwerfen, bevor ihnen die andere Welt zugänglich wird? Handelt der Film eigentlich von der unüberbrückbaren Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen? Und dann der Psychologe: Ist sein Handeln professionell zu rechtfertigen, oder bewegt er sich völlig jenseits seiner Kompetenzen? Hätte er nie mitgehen dürfen im Wahn des Kindes? Es sind schwierige Fragen, auf die der Film keine rechte Antwort gibt. Aber Fragen zu stellen, bedeutet nach rationalen Erklärungen zu suchen, und ein positiver Nebeneffekt ist, daß es die ärgste Spannung dämpft. Für alle Fälle kontrolliert man noch schnell, ob man die Hintertür gut abgeschlossen hat. Dann geht man zu Bett.

 

Das fremde Kind

Die Gegensätze zwischen Erwachsenen und Kindern sind ein beliebtes Thema, das seine Wurzeln in der Romantik hat. Es hat in Kunst und Literatur, aber auch in den Humanwissenschaften seine Spuren hinterlassen. Tatsächlich können wir nicht mehr über das Kind nachdenken, ohne es gegen den Erwachsenen abzusetzen, der es (noch) nicht ist.

Daß es Unterschiede gibt zwischen Kindern und Erwachsenen, wurde vorher natürlich auch gesehen, aber die Kindheit wurde doch eher als quantité négligeable betrachtet, die man so schnell wie möglich hinter sich lassen müsse. "Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindliche Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war", so Paulus im ersten Korintherbrief (13:11). Das Kind als unwissender, unzulänglicher Denker, von dem der Erwachsene entschlossen Abschied nehmen müsse, ist ein Bild, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der westlichen Welt zieht.

Aber mit der Romantik scheint sich das Blatt gewendet zu haben; das Pauluszitat wird nun eher herangezogen, um die Arroganz des Erwachsenen herauszustellen. Die Unwissenheit scheint nun beim Erwachsenen situiert zu werden. Kinder verfügten über einen ursprünglicheren und elementareren Blick auf die Wirklichkeit, wozu Erwachsene höchstens in Ausnahmefällen Zugang hätten. Dieser Standpunkt bildet seither ein verbreitetes Motiv in Kunst und Literatur. Besonders schön in Worte gefaßt ist es in Saint-Exupérys: Der kleine Prinz (1943). Der kleine Prinz muß zu seiner Trauer entdecken, daß Erwachsene nicht imstande sind, ein Schaf zu zeichnen, unwichtige Fragen stellen und seine Antworten nicht zu begreifen scheinen; eine Quelle für Verständnislosigkeit und Ärger: "Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst, und für die Kinder ist es zu anstrengend, es ihnen immer und immer wieder erklären zu müssen", so der (erwachsene) Erzähler. Dieser ist ein abgestürzter Pilot und hat als solcher schon einen etwas weniger verengten Blick auf das irdische Dasein. Er verfügt glücklicherweise auch über ein erweitertes Bewußtsein, das ihm Einsicht in die Welt von Kindern erlaubt. "Du kommst also von einem anderen Planeten?", fragt er den kleinen Prinzen, so wie man jemanden ansprechen könnte, der nicht ganz bei Verstand ist. Der Pilot stellt die Frage aber in ihrer wörtlichen Bedeutung und zeigt damit, daß er imstande ist, sich in den kleinen Prinzen hineinzuversetzen. Die Moral ist deutlich. Wenn es schon um Unzulänglichkeit geht, dann liegt diese bei den (meisten) Erwachsenen, die die elementarsten Dinge nicht begreifen.

 

Rationale Mystifizierung

Nun könnte man die Hypothese aufstellen, daß Pädagogik und Entwicklungspsychologie nur dank dieser Differenz zwischen Kind und Erwachsenem bestehen, daß letztere das Fundament dieser Wissenschaften darstellt. Innerhalb dieser Disziplinen ist das Kindliche gekennzeichnet als 'alles, was der Erwachsene nicht sein will'. Dieser Aussage wird die Spitze genommen, wenn man den Unterschied als funktional und (evolutionär) notwendig beschreibt, wodurch das normative Element in den Hintergrund tritt. Zugleich werden die Unterschiede aber auch verabsolutiert und auf einen prinzipiell unhintergehbaren Ursprung verwiesen. Dementsprechend äußert sich in der wissenschaftlichen Annäherung an das Kind und die Kindheit fast immer eine ambivalente Mischung aus Rationalismus -- 'Entzauberung' könnte man mit Max Weber sagen -- und Mystifizierung.

Was den Rationalismus betrifft, so wurde von Psychoanalyse, (Entwicklungs-)Psychologie und Pädagogik immer betont, daß die ersten fünf bis sechs Jahre der Kindheit entscheidend seien für die weitere Entwicklung und de facto richtungweisend für die gesamte Biographie. Größte Aufmerksamkeit wurde dann auch lange Zeit auf die frühe Entwicklung gerichtet, um angeben zu können, wie der Prozeß verläuft, in welchem die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem überbrückt werden kann (und muß). Aber zugleich wurde stets unterstrichen, daß gerade die frühe Kindheit -- ebenso wie der Ursprung der Spezies Mensch selbst -- in hohem Maße terra incognita bleiben werde. Wir selbst haben per Definition keinen Zugang zu unseren eigenen frühen Kinderjahren, und die Kinder verfügen noch nicht über die kognitiven und sozio-emotionalen Fähigkeiten, uns darüber verläßlich Auskunft zu geben. Die wichtigste Phase ist damit zugleich die dunkelste in unserem Leben und dadurch eine dankbare Projektionsfläche. Freud, ein Experte der rationalen Mystifizierung der Kindheit (als Quelle tiefverwurzelter aber verborgener Triebe und Sehnsüchte), war sich dessen bewußt, als er über Eltern schrieb, die ihren Narzißmus auf das Kind projizieren:

"Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein."

Das Kind steht außerhalb der normalen Ordnung und könnte gewissermaßen ebenso gut von einem anderen Planeten kommen. Erwachsene, denen es gelingt, auch nur einen Strahl von diesem Planeten aufzufangen, gehören dann schnell zu einer besonderen Kategorie beneidenswerter Menschen. Der Psychologe in The Sixth Sense (ebenso wie der Pilot aus Der kleine Prinz) ist also nicht irgendein Erwachsener, sondern scheint einen Anspruch auf diesen auserkorenen Status zu haben. Von Berufs wegen ist er interessiert an der Phantasiewelt seiner Klienten, aber es ist gleichzeitig seine professionelle Aufgabe, seine Klienten wieder aus der Phantasiewelt in die Realität zurückzuführen. Seine Professionalität liegt darin begründet, daß er imstande ist, dem Jungen Verständnis entgegenzubringen, aber gleichzeitig muß er Distanz wahren und darf sich nicht dazu hinreißen lassen, sich allzu sehr mit den Problemen des Kindes zu identifizieren.

Ästhetisch gesehen ist die Entscheidung für die Grenzüberschreitung leicht zu rechtfertigen. Sie erhöht nicht nur die Spannung des Films, sondern ist auch nötig für den Handlungsfortgang. Er ist der erste Erwachsene, dem es gelingt, etwas von der Welt des Kindes zu begreifen, und nur durch seine Grenzüberschreitung können wir daran teilnehmen. Wäre der Psychologe innerhalb seiner professionellen Grenzen geblieben, so hätte er sich für den Rest des Films ins Abseits manövriert.

 

Mood Indigo

Seit einigen Jahren, heißt es, kommen vermehrt 'Indigokinder' -- so benannt nach der offenbar 'dunkelblauen Farbe ihrer Aura' -- zur Welt, um uns beim Übergang zu einer höheren Bewußtseinsstufe zu helfen. Sie seien Vertreter einer neuen Evolutionsstufe, die zu einer stärker spirituell und intuitiv veranlagten Menschheit führen soll. Als Träger eines höheren Bewußtseins verfügten viele von ihnen über 'alte Seelen' oder kämen aus einem anderen Sonnensystem oder anderen Dimension, zu der sie noch Verbindungen unterhalten. Diese Kinder seien Wegbereiter einer besseren Zukunft, in der wir liebevoller zusammenleben können, einer Welt ohne Krieg, Gewalt und mörderischen Wettbewerb. Da diese Zukunft noch nicht verwirklicht ist, werden sie auch "Kinder einer Neuen Zeit" genannt, wie es auf verschiedenen Websites über "Indigokinder", "Lichtkinder", "Kristallkinder", aber auch "intuitive", "hochempfindsame" oder sogar "überempfindsame" Kinder heißt (z.B. www.indigokinder.de). Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die unterschiedlichen Bezeichnungen oft auf denselben Typus verweisen und parallel verwendet werden, wenn es auch einzelne Akzentverschiebungen gibt.

Zahlenmäßig handelt es sich dabei um ein weniger seltenes Phänomen, als man zunächst meinen sollte. Von den Anhängern dieser Richtung wird geschätzt, daß bereits 95% aller gegenwärtig geborenen Kinder Indigo seien. In der näheren Zukunft werden sie also zwangsläufig einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ausmachen.

Andere deuten das Auftreten dieser 'Kinder einer Neuen Zeit' vor allem als Gegenreaktion zur hastigen, aggressiven Welt, dem überwältigenden Einfluß von Fernsehen, Handy und Computer oder als Widerstand gegen unnatürliche Nahrungsmittel und Impfungen.

Das Indigokind, so heißt es auf den einschlägigen Informationsseiten weiter, wird geboren, um bedingungslos zu lieben, trifft aber leider allzu oft auf Erwachsene, die dafür nicht empfänglich sind. Unverständnis und manchmal regelrechte Kämpfe sind die Folge. Indigokinder reagieren auf die fehlende Akzeptanz häufig mit Verunsicherung. Sie entwickeln nicht selten Probleme, die psychologisch interpretiert werden: Überempfindlichkeit, Zurückgezogenheit, Introvertiertheit, Angst, aber auch Hyperaktivität, Autismus, Lese- und Rechenschwäche werden hier häufig genannt. Genau betrachtet seien diese Zuschreibungen jedoch eher Ausdruck des Unvermögens von Experten und Erwachsenen als Diagnosen, mit denen diesen Kindern geholfen werden könne. Darüber hinaus verstellten diese Diagnosen den Blick auf den positiven Beitrag, den diese Kinder für unsere Gesellschaft leisteten. Indigos seien empfindsame, kreative, weise Denker und verfügten über paranormale Kräfte. Oft könnten sie auf Erfahrungen aus früheren Leben zurückgreifen. Entsprechend offen sollten Erwachsene für diese Kinder sein, ihnen den Raum geben, den sie brauchen, statt ihr Leben durch die Psychologisierung ihrer Merkmale unnötig zu erschweren. Im übrigen seien auch viele Erwachsene selbst Indigo; diese seien aber durch die vielen Widerstände, die sie als Kinder erfahren hätten, mürbe geworden, so daß der Kontakt zu ihrem tiefsten Inneren abgebrochen sei.

Die Psychologie, soviel wird deutlich, ist im spirituellen Bewußtsein nicht wirklich zu Hause. Dessen ungeachtet machen die Anwälte des 'Neuezeitkindes' großzügig Gebrauch von aus der Psychologie entlehnten Einsichten und versuchen, sich an die reguläre psychologische Praxis anzulehnen. Es gibt ein blühendes Geschäft mit Therapien, wobei der Fokus eher auf Bachblüten, Reiki und heilende Steine gerichtet ist als auf wissenschaftlich validierte Verfahren, wie etwa die kognitive Verhaltenstherapie, um nur eines zu nennen.

In den Niederlanden tauschen sich diverse klinische Pädagogen und Psychologen auf dem Portal Nieuwetijdspunt.nl aus und berichten ohne wissenschaftliche Skepsis von ihren Erfahrungen mit Neuezeitkindern. Die klinische Pädagogin Erika de Bly meint, das Schulsystem versage bei der Betreuung dieser Kinder. Sie plädiert für eigene Schulen, an denen die spezifischen Fähigkeiten von Neuezeitkindern, die oft weniger analytisch eingestellt seien und eher bildlich dächten, mehr zu ihrem Recht kommen könnten. Auch die Psychologin Barbara Prassek arbeitet regelmäßig mit Neuezeitkindern und rät anderen:

"Auch wenn Sie selbst nichts von Reinkarnation und paranormalen Erscheinungen halten, nehmen Sie ein Kind, bei dem das anders ist, dennoch ernst. [...] Ich gehe davon aus, daß manche Kinder sich in anderen Dimensionen befinden können und dort alles Mögliche wahrnehmen. Ich glaube nicht, daß es hilft, so einem Kind zu sagen, es hätte eine lebendige Phantasie oder es solle aufhören mit diesem Unsinn. Wenn ein Junge mir erzählt, daß er in der Ecke einen schwarzen Mann sieht, dann glaube ich ihm, auch wenn ich selbst nichts sehe. Dann versuche ich, zusammen mit dem Kind eine Lösung zu finden, um den Mann zu vertreiben oder dafür zu sorgen, daß die Angst abnimmt."

Wie weit man gehen darf, wenn man die Aussagen von Kindern beim Wort nimmt, scheint eine berechtigte Frage. Wenn wir dem Portal glauben wollen, sehr weit. "Wir haben diesen Kindern eigentlich weniger zu sagen als sie uns", behauptet Carla Muijsert, Autorin einiger Bücher über Neuezeitkinder. Sie sieht in diesen Kindern einen Fingerzeig auf die Zukunft:

"Immer mehr Menschen erfahren, daß alles aus ein und derselben Quelle stammt. Jeder Mensch ist ein Tropfen aus demselben Ozean. Wir sind alle Individuen und doch Teil eines großen Ganzen. Immer mehr kleine Kinder erfahren diese Einheit sehr deutlich. Sie sehen keine Unterschiede, sondern im Gegenteil alle möglichen Übereinstimmungen. Die Welt ist für sie ein großes, organisches Ganzes. Sie fühlen sich allem und jedem verbunden. Wenn jemand einen Zweig von einem Baum reißt, bereitet das manchen Kindern Schmerzen. So stark ist dieses Band [...]. Kinder sind in ihrem Bewußtsein einen Schritt weiter. Sie lassen sich durch ihr inneres Wissen leiten. Wir unterdrücken das oft. Das haben wir so gelernt. Aber diese Kinder lassen sich nicht unterdrücken. Sie wollen so akzeptiert werden, wie sie sind."

 

Hochsensible Kinder

Die Ideologie hinter dem Glauben an Neuezeitkinder ist für eher 'nüchterne' Menschen schnell zu esoterisch. Respekt für die Empfindsamkeiten des Kindes ist eines, aber dann gleich das gesamte Spektrum von übernatürlichen, spirituellen und paranormalen Erscheinungen zu übernehmen, etwas anderes. Für eher pragmatisch Veranlagte bietet sich gleichwohl eine Alternative, die beinahe ebensosehr auf die besondere Empfindsamkeit des Kindes eingeht wie das Denkgebäude der Neuezeitdenker, sich aber praktisch ausschließlich einer psychologischen Terminologie bedient. Dies wird nirgends sichtbarer als in den momentan sehr populären Büchern über die so genannten 'hochsensiblen Kinder'.

Daß die Verwandtschaft mehr als nur oberflächlich ist, wird schon an den Websites über Indigo- und Neuezeitkinder deutlich, die praktisch immer auf Hochsensibilität verweisen und manchmal den Eindruck erwecken, es ginge um ein und dasselbe Phänomen. Der zentrale Unterschied zu den Anhängern der Indigo-Gruppe scheint die Überzeugung zu sein, Hochsensibilität als Phänomen habe es schon immer gegeben. Somit hält man sich auch eher bedeckt im Hinblick auf den (zukünftigen) Umfang der Gruppe, die hiervon betroffen ist.

Wer sich für hochsensible Kinder interessiert, kommt unvermeidlich mit dem Werk von Elaine N. Aron (2004) in Berührung. Aron hat in ihrer langjährigen Erfahrung als Psychotherapeutin viel mit Kindern zu tun gehabt, die anders waren: empfindlicher, schneller aus der Bahn geworfen, verletzlicher in bezug auf alle Eindrücke, die auf sie einstürmen. Sie schrieb schon früher über Hochsensible Personen und Hochsensible Personen in der Liebe, Bücher die bereits alle Aspekte thematisieren, die auch Das hochsensible Kind ausmachen. Für Anhänger gibt es auch einen Abreißkalender für hochsensible Personen im Handel.

Aron bezeichnet sich selbst ausdrücklich als hochsensible Person und hat auch ein hochsensibles Kind, das sie oft kurzweg 'mein HSK' nennt. Die Betonung der persönlichen Erfahrung mit dem Phänomen ist dabei nicht nur bei ihr eine durchgängige Stilfigur. Offenbar verschafft diese der Autorin eine Autorität, die professionelles Wissen nicht, oder nicht hinreichend verleihen kann.

Zu ihrer Rolle als 'Erfahrungsexpertin' paßt auch das Mißtrauen gegenüber den regulären therapeutischen Institutionen. Denn diese zeigen nur allzu oft wenig Bereitschaft, ihr zuzuhören. Gleichzeitig ist Aron aber viel daran gelegen, ihre professionelle Autorität zu untermauern. Sie gibt sich Mühe, konform wissenschaftlichen Standards zu schreiben. In ihren Büchern spricht sie von Studien, die ihre Ergebnisse bestätigten; diese haben allerdings in den meisten Fällen nur am Rande mit ihrem eigentlichen Thema, der Existenz hochsensibler Kinder zu tun.

Offensichtlich müssen wir uns mehr mit den Problemen Hochsensibler befassen. Leider sind viele Therapeuten und Lehrkräfte noch nicht hinreichend kundig, und manche sind so ignorant, daß sie sich keine Zeit nehmen für die Empfindsamkeit von anderen. Darum lehrt Aron, wie man mit widerspenstigen Fachleuten umgehen muß. Man muß ihnen immer einen Schritt voraus sein, wenn man über sein Kind spricht, indem man gleich zu Beginn -- Aron nennt dies ein 'intro' -- die eigene Sichtweise darlegt, nämlich kurz erklärt, was Sensibilität bedeutet. Sie gibt praktische Hinweise auf Bücher, die man dem Kinderarzt zu lesen geben kann. Bleibt der Professionelle dann immer noch unempfänglich für alle guten Vorschläge und Ihr spezifisches Wissen von Ihrem Kind, dann ist es besser, sich nicht weiter die Mühe zu machen und lieber nach jemand zu suchen, der zuhören will und kann.

 

Von Eindrücken überwältigt

Ein 'HSK' ist ein Kind, das oft nicht in der Lage ist, mit dem überwältigenden Bombardement an Eindrücken aus seiner Umwelt umzugehen. Viel öfter als 'das durchschnittliche Kind' wird es übermannt von Gefühlen, so daß es sich zurückzieht. Es ist häufiger ängstlich, gehemmt oder nervös. Es scheint an depressiven Schüben zu leiden, oder aber ist widerspenstig und unlenkbar. Das Spektrum ist breit, denn eigentlich ist bei einem HSK alles möglich. Keine zwei sind gleich, sie sind alle unterschiedlich. Eine komplexe Angelegenheit -- oder nur ein schlecht definiertes Phänomen?

HSK sind einmalige Kinder, aber auch wieder nicht, denn etwa 15-20% aller Kinder erfüllen die Kriterien dafür. Jungen und Mädchen sind gleichermaßen betroffen von dieser 'Eigenschaft', denn als solche müssen wir lernen, das Verhalten zu sehen, als eine Eigenschaft, nicht anders als 'willensstark' oder 'unproblematisch'. Die betroffenen Kinder sind nicht immer leicht zu erkennen, aber mit dem Fragebogen für Eltern -- 'erschrickt leicht', 'scheint sehr intuitiv', 'kann schlecht mit großen Veränderungen umgehen', 'ist perfektionistisch' -- kommt man schnell dahinter. "Haben Sie 13 oder mehr Fragen mit 'ja' beantwortet, dann ist Ihr Kind wahrscheinlich hochsensibel", so Aron. Sie fügt aber gleich hinzu:

"Kein einziger psychologischer Test ist so verläßlich, daß Sie die Art Ihres Umgangs mit Ihrem Kind darauf beruhen lassen sollten. Wenn Sie auch nur eine oder zwei Fragen mit 'ja' beantwortet haben, diese aber in extremem Maß zutreffen, kann es dennoch sein, daß Ihr Kind hochsensibel ist."

Wenn man nur richtig hinschaut, gibt es also immer einen Grund, ein Kind hochsensibel zu nennen. HSK begegnen im täglichen Leben zahllosen Problemen: Das Zettelchen im Kragen des Pullovers, der Schulausflug, die Form der Maccaroni, Empfindlichkeit bei bestimmten Gerüchen, alles kann das HSK aus dem Gleichgewicht bringen. Auf der anderen Seite ist das HSK sehr talentiert im Umgang mit Tieren und Pflanzen. Und Aron ist davon überzeugt, daß die Menschheit von den HSK profitieren kann. Sie sind wachsam bei Veränderung und Gefahr, verfügen über die Fähigkeit, darüber zu reflektieren, und seit jeher finden wir, so Aron, sensible Menschen als Wissenschaftler, Theologen, Historiker, Richter, Ärzte und Künstler. Das Buch ist ein Fest der Wiedererkennung für jeden, der selbst mit Hochsensibilität zu kämpfen hat. "Das bin ich -- es stimmt komplett; ich wußte nicht, daß es noch mehr Menschen gibt, die sich so fühlen", bekam Aron nach ihrem ersten Buch häufig zu hören.

 

Aus der Luft gegriffen?

Die Geschichten der Indigo- und Neue Zeit-Kinder lassen sich noch abtun als die zigste Variante von abstrusen New-Age-Ideen; das ist bei Arons Hochsensiblen weniger einfach. Ihre Beschreibung empfindsamer Kinder ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Viele Menschen werden Erfahrungen mit (ihren) Kindern oder sich selbst haben, die mit Arons Beschreibungen hochsensibler Kinder übereinstimmen. Kinder, die introvertiert sind, große Veränderungen schwer verkraften, sich in Gruppen weniger wohl fühlen, sich schneller Sorgen machen über Dinge, die für andere Kinder völlig unproblematisch sind: Wer kennt sie nicht? Darum ist es auch sinnvoll, diese Kinder besonders zu berücksichtigen, vor allem in einer Zeit, in der sich alles um Selbstbehauptung und soziale Kompetenzen zu drehen scheint.

Aron aber geht sehr viel weiter in ihrem Plädoyer für diese Kinder. Aus 'hilfsbedürftig' wird bei ihr im Handumdrehen 'herausragend'. Beim Lesen entsteht der Eindruck, Hochsensibilität sei nicht so sehr eine psychische Eigenschaft, sondern vielmehr eine 'Gabe'. Im Gefolge von Aron sind bereits Bücher erschienen, die diese Idee weiterführen.

Aron stellt Hochsensibilität als absolut dar, und manchmal scheint es, als gäbe es einen unhintergehbaren Unterschied zwischen Hochsensiblen und Nichtsensiblen (einem recht vagen Typus). Schließlich sollte man annehmen, daß es zwischen den von ihr geschätzten 15-20% Sensiblen und den restlichen 80-85% auch einiges an Übereinstimmung geben müsse. Aron erkennt selbst die Problematik einer solchen Polarisierung und äußert sich dazu am 10. April 2004 in einem Interview mit der großen niederländischen Tageszeitung De Volkskrant:

"Die Gefahr [...] besteht bei jeder Zweiteilung. Aber was zählt das, wenn demgegenüber Menschen, die gewohnt sind als schwierig, überempfindlich, ungesellig und passiv angesehen zu werden, jetzt einmal hören, daß ihre Eigenschaften für die Gesellschaft sehr wertvoll sind?"

Viele Leser werden den Wirrwarr an Ideen, klugen Ratschlägen, Tips für Eltern, Kinder und Lehrkräfte als wissenschaftlich ansehen. Populäre Zeitschriften wie Psychologie Magazine und das 'Fachblatt für Eltern' J/M verstärken diesen Eindruck. Psychologie Magazine hält sich in der Ausgabe von Oktober 2004 noch zurück und läßt auch kritische Wissenschaftler zu Wort kommen, aber liefert gleichzeitig einen Test mit, um zu entdecken, 'wie empfindsam Sie sind'.

Die Frage ist, ob sie damit ihre professionelle Distanz nicht zu sehr aus den Augen verlieren. Und ist der Hang von Erwachsenen -- Fachleuten und Eltern -- zum 'besonderen Kind' nicht ein Resultat genau der Projektion, vor der Freud gewarnt hat?

 

C'est dur, d'être adulte

Wenn Neuezeitkinder schon nicht von einem anderen Planeten kommen, dann befinden sie sich jedenfalls in einer wundersamen Welt. Man könnte das Phänomen abtun als eine marginale Erscheinung, die sich im schlimmsten Fall an den Grenzen der Psychologie abspielt. Diese Grenzen aber sind durchlässiger als die der EU-Länder seit dem Schengen-Abkommen. Viele Vertreter ('Therapeuten') von Indigo- und Neuezeitkindern verwenden einen Jargon, in dem viel (Pseudo-)Psychologie vorkommt. Schlimmer noch, viele Psychologen finden nichts dabei, ihren Namen mit der Anhängerschaft des Neuezeitdenkens zu verbinden. Es mag sein, daß sie dabei einen nuancierten Standpunkt einnehmen und die Erfahrungen von Neuezeitkindern weniger glauben als respektieren, aber dessen ungeachtet verleihen sie dem Phänomen doch wissenschaftlichen Status. Die enge Beziehung zwischen dem Neuezeitdenken und Hochsensibilität macht die Esoterik salonfähig.

Auf den Sites über Hochsensibilität wird brav auf die Unterschiede zu Neuezeitkindern hingewiesen, aber die Gemeinsamkeiten springen stärker ins Auge. In Arons Arbeiten wird ein Jargon benutzt, der Wissenschaftlern vertraut ist und bei Laien Vertrauen erweckt, aber letztlich geht es um eine Ideologie, die in einem wissenschaftlichen Mäntelchen daherkommt. Für Laien ist es vor allem ansprechend, daß der Ton so positiv ist.

Daß die Wissenschaftlichkeit vor allem Fassade ist, zeigt sich daran, daß die Existenz hochsensibler Personen nirgends in Frage gestellt wird. Es gibt sie, und wer das nicht sieht, disqualifiziert sich damit selbst. Darüberhinaus kann Aron sich auch noch so sehr die esoterische Sprache verkneifen, sie hängt wie eine Aura um ihr Werk. So erstaunt es auch nicht, daß die Neuezeitdenker dies ebenso wahrgenommen und sich Arons Arbeiten nahtlos in ihre Fiktion vom besonderen Kind einverleibt haben.

Diese Fiktion steht auch Modell für die Art, wie sowohl bei Aron als auch den Neuezeitdenkern das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern verstanden wird. Ob dies zum Besten der Kinder ist, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt. Die Möglichkeit, daß verzerrte Auffassungen von Wirklichkeit zu psychischen Problemen beim Kind führen können, wird kaum thematisiert. Statt dessen werden Erwachsene ermutigt, sich dem Kind anzupassen, denn wie wir bei Carla Muijsert schon gehört haben: "Wir haben diesen Kindern eigentlich weniger zu sagen als sie uns."

Aron geht, wenn auch weniger explizit, vom selben Standpunkt aus. Das ist auch kaum anders möglich, denn wie sollte eine empfindsame Person etwas von einer nicht empfindsamen Person lernen können? So wendet sich Aron an verschiedenen Stellen in ihrem Buch an die nichtsensiblen Eltern, mit Aussagen wie: "Sie werden es schwierig finden zu glauben, daß Ihr Kind die Welt anders wahrnimmt" oder "tun Sie alles dafür, die Wahrnehmung Ihres Kindes zu begreifen".

Sofern Arons Annäherung noch eine Erziehungslehre genannt werden kann, stehen darin die Verhältnisse Kopf. Um es mit den Worten des französischen Philosophen Pascal Bruckner zu sagen, geht es um eine Pädagogik, die zur Theologie erhoben wurde. Das Kind beansprucht als Repräsentant eines ursprünglicheren Zustandes von intuitivem und spirituellem Wissen eine Hingabe, die quasi-religiöse Züge trägt. Wir müssen uns zu ihm bekennen und versuchen, uns ihm anzunähern. Dies setzt einen Glauben voraus, der keinen Widerspruch duldet. Fachleute, die nicht das richtige Verständnis für ein solches Kind haben, müssen gemieden werden, andere können auf den richtigen Weg gebracht werden, wenn Eltern ihnen ein gutes Buch über Empfindsamkeit empfehlen.

Hinter den zunächst angemessen und empathisch erscheinenden Worten in Arons Publikationen, bemüht um das Wohl unverstandener Kinder, scheint das Bild einer Erwachsenen auf, die stampfend wie ein bockiges Kleinkind in einem großen Spielzeugladen ihren Willen kriegen will. Weil es soviel gibt, will sie alles, außer einem deutlichen 'nein'. C'est dur, d'être adulte.

In seinem Buch diagnostiziert Bruckner diese Haltung, worin das Kindliche zur Norm geworden ist, als Infantilismus: "die Übertragung von charakteristischen Eigenschaften und Privilegien des Kindes auf den Erwachsenen". Die Schwäche des Kindes wird zu einer Stärke transformiert, die den Erwachsenen aus der Pflicht entläßt, dem Kind zu helfen, diese Verfassung zu überwinden; diese erscheint dadurch begehrenswert. Wie kann man diesen Zustand besser erreichen als dadurch, daß man -- unter dem Deckmantel einer Suche nach dem 'verlorenen Paradies' -- das Erwachsensein abschafft, um schließlich in permanenter Infantilität schwelgen zu dürfen.

Und so scheint die Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen, die seit der Romantik die Norm für das Verhältnis beider gesetzt hat, sich wieder zu schließen, aber nun durch die 'Auflösung' des Erwachsenseins. Um erwachsener Verantwortlichkeit zu entkommen, macht man aus dem Kind ein Mysterium, denn ein Mysterium ist nun mal nicht zu begreifen: Man muß daran glauben. Durch diesen Glauben ist man selbst Teil des Mysteriums geworden und gleichzeitig immun gegen Kritik. Man verschafft sich den Raum, an Geister, andere Dimensionen und Bewußtseinsformen zu glauben, die für das rationale Denken nicht faßbar sind. Man gibt, wie schlußendlich der Psychologe in The Sixth Sense, den Anspruch auf, Kinder etwas lehren zu können, und sieht sie statt dessen als Heilsbringer.

(Dies ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung von folgendem niederländischen Originalbeitrag: Breeuwsma, Gerrit: Dus jij komt van een andere planet? Over Indigokinderen, Nieuwetijdskinderen, Hoog Sensitieven en andere mystificaties. In: Tijdschrift voor orthopedagogiek 44 (2005), S. 411-423.)

(Aus dem Niederländischen von Ina Jekeli und Anke Bahl.)

 

autoreninfo 
Dr. Gerrit Breeuwsma ist Dozent für Entwicklungspsychologie an der Universität Groningen. Er ist Herausgeber der niederländischen Zeitschrift De Psycholoog und schreibt für die nationale Tageszeitung De Volkskrant. Sein Interesse gilt der Geschichte und Theorie der Psychologie, der Entwicklungspsychologie des Lebenslaufs und der Kunst(Psychologie). Seine wichtigsten Veröffentlichungen (auf niederländisch) sind Psychologie für die linke Hand. Über Kunst, Vorstellungskraft und andere Anormalitäten (1998) und Psychologische Angelegenheiten. Wegweiser für die Arbeitsweise des Geistes (2004). Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über die Vorstellung vom Kind in Autobiographie, Psychologie und Literatur.
E-Mail: g.breeuwsma@rug.nl

 

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