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no. 10: chinesische gegenwarten
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editorial |
Während weiterhin um die Konditionen von Chinas WTO Beitritt gefeilscht wird -- Spionageflugzeuge hin oder her -- und die großen westlichen Investoren mit angehaltenem Atem in den ökonomischen Startlöchern sitzen, kann man leicht den Eindruck gewinnen, daß China eigentlich nichts anderes ist als ein gigantischer Markt. Ein Emblem für diese Position sind die ganzseitigen Anzeigen, die seit Anfang diesen Jahres eine große amerikanische Consulting-Agentur in der New York Times schaltet. In idyllischem schwarz-weiß Szenario sieht man hier die Silhouette eines chinesischen Bauern, für jeden unzweifelhaft am traditionellen Hut erkennbar, auf einen Stab gestützt an der Spitze eines Bootes stehen, das unbeweglich auf silbriger Wasseroberfläche liegt, während im Hintergrund die Uferlinie mit nebelumhüllten Bergen verschwimmt. Auf dieses klassische Tableau eines zeitlosen Reiches der Mitte ist eine ausgeschnittene Zeitungsüberschrift geheftet: "Chinese to Become #1 Web Language by 2007", und darunter findet sich in geschweiften Klammern der Kommentar "Now it gets interesting". Fernab aller chinesischen Wirklichkeit wird so ein Land mit Milliardenbevölkerung zum Vakuum, das erst der Internetanschluß füllt, und welches nur darauf wartet, durch die unaufhaltsame und sicher prognostizierte Dynamik der Globalisierung aus einem exotischen Dornröschenschlaf geweckt und mit offenen Armen in die schöne neue Welt des E-commerce aufgenommen zu werden. Politische und kulturelle Differenzen, sowie unangenehme Menschenrechtsdiskussionen bleiben unaufdringlich beiseite, wirken sie doch oft ohnehin wie ein bloßes Anhängsel wirtschaftlicher Erwägungen, wenn es weniger um das Wohl der chinesischen Bürger zu gehen scheint, als um die Schaffung von Handelsbeziehungen, die nicht unentwegt im Brennpunkt heimischer Kritik stünden. |
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Doch wenn man eine funktionierende globale Gemeinschaft im Auge hat, deren Teil die Volksrepublik ohne Zweifel sein muß, und ohnehin in vielerlei Hinsicht bereits ist, kann es nicht darum gehen, den endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus chinesischer Prägung abzuwarten, um dann triumphierend auf die liberalisierende Kraft westlicher Wirtschaftsmodelle hinzuweisen, während AOL und Telekom in Peking die Internetgebühren einkassieren. Und das nicht nur, weil der Lebensstandard in China in den letzten 20 Jahren zwar unzweifelhaft gestiegen ist, sich die Diskrepanz zwischen den boomenden Küstengebieten und den ärmeren Inlandsprovinzen jedoch beständig vergrößert und die eventuelle Auflösung der großen Staatsbetriebe Millionen von Arbeitslosen produzieren würde, womit Probleme absehbar sind, die weitsichtige politische und soziale Reformen notwendig machen, und die nicht allein durch freien Handel und die Öffnung des Landes für ausländische Investoren zu bewältigen sind. |
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Was außerdem vor allen Vertragsabschlüssen nötig ist, ist eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Entwicklung der chinesischen Kultur und Gesellschaft, und die ernsthafte Diskussion der Frage, welche Wertesysteme und Lebensformen entstehen und entstehen können, während der Machtapparat der kommunistischen Partei weiterhin existiert, die kommunistische Ideologie aber beständig zerbröckelt, und die chinesische Gesellschaft sich Zug um Zug westlichen und asiatischen Einflüssen öffnet. Denn nur so kann der Globalisierungsprozeß einen tatsächlichen kulturellen Austausch und eine gegenseitige Bereicherung bedeuten, die mehr wäre als ein kurzfristiger Wandel der Aktienkurse. |
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Alexander Schlutz |
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autoreninfo
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Dr. Alexander Schlutz leitet die parapluie-Redaktion, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Tübingen und Seattle, und unterrichtet zur Zeit Englische Literatur am John Jay College of Criminal Justice in New York City.
E-Mail: alexander.schlutz@parapluie.de |
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