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no. 13: cyberkultur
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editorial |
Parallel zu den Vorbereitungen dieser parapluie-Ausgabe zum Thema Cyberkultur findet eine Diskussion statt, die dazu führen könnte, daß bald nicht mehr die Bezeichnungen Internet oder World Wide Web als Synonyme für den Ideen- und Utopiengenerator schlechthin prozessiert werden. Es geht dabei um die mögliche nächste Evolutionsstufe und neue Infrastruktur des WWW, bzw., je nach Entwicklung, dessen Nachfolger: das semantische Web. Während das WWW zwischen Daten und Informationen nicht sauber zu unterscheiden weiß und somit an sich dumm ist, sollen Maschinen zukünftig aufgrund von Inferenzregeln und einfacher Logik in der Lage sein, Bedeutungen zu erfassen und neues Wissen aus gegebenem abzuleiten, also eigene Schlüsse zu ziehen und Informationen richtig einordnen zu können. Ohne gleich ein Netz künstlicher Intelligenzen mit den kognitiven Fähigkeiten eines Menschen zu imaginieren, könnte man sagen, Maschinen sollen in der Lage sein, zu verstehen. |
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Angesichts solcher Uptempo-Auseinandersetzungen über die eben schnellere Entwicklung der neuen Medien erweist sich der verlangsamte und zuweilen historisierend reflektierende Blick, wie ihn parapluie unternimmt, als wichtiger alternativer Blick nach vorne. Insofern, als er weniger Gefahr läuft, sich in zu eng fokussierten und somit im nächsten Moment vielleicht hinfälligen Fragestellungen zu verfangen, lediglich aktuelle und meist kurzfristige Trends fortzuschreiben oder die Zukunft ad hoc nach eigenen Ängsten und Hoffnungen zu zeichnen. Vielmehr ergibt sich etwa die Chance, auch 'driftende', also als solche nicht wahrnehmbare Veränderungen zu sehen, ohne dabei notwendig befürchten zu müssen, von veralteten Fakten auszugehen und die Zukunft zu verpassen. |
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Aus dieser Perspektive wäre zu fragen, ob nicht etwa Cyc, jene große multi-kontextuelle Wissensbasis und Inferenzmaschine mit gut zwanzig Entwicklungsjahren, andeutet, daß die überschaubaren Inferenzregeln klassischer Prädikatenlogik auf dem Weg zu Maschinen-Verstehen nicht sehr weit führen. Cyberkultur hat sich jedoch einen anderen Schwerpunkt gewählt und richtet ihr Augenmerk vornehmlich auf explizit kulturelle Netzphänomene; nicht ohne diese in der einen oder anderen Form an andere Kontexte rückzukoppeln. Was ist seit der vorsemantischen Weggabelung von Internet und Web, also in gut zehn Jahren Netzhype aus der -- um mit dem Publizisten Marco Maier zu sprechen -- säkularisierten Genesis der kommunikativen Sorte in kultureller Hinsicht geworden? Wie wird der neue und gängige Vorstellungen von Territorium in Frage stellende Raum kulturell gestaltet, wie kann er gedacht werden und wer hat dabei welchen Einfluß? Wie steht es um die Digitalisierung und damit die Netzfähigkeit der Kunst, des Kinos, der Literatur, des Theaters? Welche Berührungspunkte haben diese traditionellen Medien mit denjenigen kulturellen und zumeist hybriden features des Cyberspace, wie etwa Computerspielen, die erst oder vermehrt mit und durch das Netz und dessen Technologie aufkommen und dieses ihrerseits prägen? |
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Will man einer griffig-ubiquitären Erzählung der Netzgeschichte Glauben schenken, ist angesichts dieses Vorhabens und allgemein bezüglich der Verbindung 'Netz und Kultur' Pessimismus angesagt: 1991 wecken Tim Berners-Lee und Robert Cailliau vom Europäischen Labor für Teilchenphysik CERN mit der Entwicklung des WWW, das bereits lange vorher existierende und von Militärmythen umrankte ARPA-/Internet aus dem Winterschlaf. Es folgen glückliche, postmilitärische Kinderjahre: Die Spielwiese der Kreativität wird neben Wissenschaftlern jetzt auch von bedroom-Programmierern und Künstlern mit Pioniergeist bevölkert. Hacker-Ethik, Science-Fiction-Rhetorik, digitale Subversion; es lebe die floating gallery of the mind -- und keiner weiß, wohin die Reise geht. Doch der Sommer ist kurz. Spätestens als Microsoft 1995 das Internet für sich und die Welt entdeckt, beginnt die zunehmende Kommerzialisierung; schnell verzeichnen die Internet-Logfiles ein radikal anderes Bild der digitalen Landschaft. Das Netz wird erwachsen, in HTML vereinheitlicht, alltags- und bürotauglich, kurz: banal. Offene Monopole für eine offene Gesellschaft. Unlock your business creativity with the new media. Viele Netzkunst- und Kulturschaffende können sich, nach vereinzelt erneuerter Euphorie, der Ernüchterung nicht entziehen. Profilierte Aktivisten wie etwa Heath Bunting und Rachel Baker erklären das Netz für uninteressant und beginnen an anderen Themen zu arbeiten; viele gehen als Gebrauchsprogrammierer und Interfacedesigner in die entstehenden Bedürfnisse der Gesellschaft ein. Mit der Dot.com-Krise keimen dann nochmals Hoffnungen. Eine Chance für die Kunst, der Kapitalisierung des Netzes via Ästhetik ein anderes Gesicht zu geben!? |
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Es wäre nicht allzu überraschend, wenn sich die Auswirkungen der Dot.com-Krise in mittelfristig als recht unbedeutend herausstellen. Erheblich geringer etwa als die Bedeutung, die die Krise von 1873 für die deutschen Gründerjahre besaß, und die war ja schon, wenn man den Verlauf der Industrialisierung bis 1914 betrachtet, minimal, schreibt der Autor Gundolf S. Freyermuth in einer privaten Korrespondenz. Das heißt nicht, daß die Hoffnungen auf Zunahme ästhetischer Kommunikation im Netz doch gerechtfertigt sind, und ebensowenig, daß es mit Netz und Kunst zum Besten steht. Wohl aber mag diese historische Parallele als ein Hinweis gelten, daß jene Reihung von Nostalgien und Gemeinplätzen, wenn auch allgemein nicht falsch, doch zu unterkomplex ist, um Wesentliches über die Verbindung von Internet und Kultur auszusagen. |
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Cyberkultur als Titel für den Versuch, mit einer Reihe von Essays eben hier eingehendere Perspektiven zu eröffnen, bezeichnet dabei im Sinn der Medientheoretikerin Katharina Gsöllpointner ein Feld von Vorstellungen und Aktivitäten rund ums Internet. Dies reicht von der Vermittlung von Medienkompetenz, über strukturierte Aufbauarbeit und dem Zurverfügungstellen technischer Mittel, bis zu auf das soziale, politische, wirtschaftliche oder eigentliche kulturelle Feld ausgerichteter Theorie und Praxis im Kontext Internet. Kultur wird dabei bewußt zur Bildung von Identitäten und zugleich für deren Kontingentsetzung gebraucht. Insofern, als von einer Kultur nur dann die Rede sein kann, wenn eine andere ausgeschlossen wird. Beobachtbar ist dieser Vorgang etwa anhand von Differenzen wie online/offline, digital/analog oder auch innerhalb der digitalen Welt des Cyberspace. Schließlich sei gesagt, daß Kunst und Kultur in diesem Kontext nicht als Synonyme verhandelt werden, wenn sich auch eine bürgerlich bzw. umgangssprachliche Verwendung zuweilen als hilfreich erweist. Von der Kunst des Netzes als solcher wird wie bei Gsöllpointner vor allem dann die Rede sein, wenn künstlerisch ausgerichtete Projekte sich die Strukturen (auch die ausgelagerten, in das soziale oder ökonomische Feld reichenden) des Internet zunutze machen, und mit ihnen und durch sie agieren bzw. sie reflektieren, egal ob auf einer rein ästhetischen oder einer handlungstheoretischen Ebene. |
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Christoph Bock |
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Literaturhinweise
Links |
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autoreninfo
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Christoph Bock studierte Germanistik, Komparatistik und Philosophie in Tübingen, Seattle und München. Arbeitet als freier Lektor und Redakteur. Interessiert sich für Retro- und Cyberkulturen, Medientheorien und Brass Band Jazz.
E-Mail: christoph.bock@parapluie.de |
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