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no. 13: cyberkultur
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Vom neuen Eigenleben der WörterDrei Fragen zur digitalen Literatur |
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von Roberto Simanowski |
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Cyberkultur und Literatur werden gewöhnlich schnell in einem Atemzug genannt. Doch wie sieht dieses Verhältnis genau aus? Vier Unterschiede zur Ästhetik traditioneller Literatur scheinen grundlegend -- angefangen beim Eigenleben des Worts auf der Textoberfläche, über Interaktion und Mitschreibemöglichkeiten bis zur Semantik von Text, Ton und Bild in multimedialen Projekten. Im Literatursystem steht digitale Literatur bisher doppelt im Abseits. Denn Sprache ist durch Technik kontaminiert und die jungen Meister des Worts bleiben fast ausnahmslos dem Buch treu. Angesichts der Tatsache, daß sich Wahrnehmung zunehmend im Internet ereignet, könnte und sollte diesbezüglich ein bildungspolitisches Umdenken einsetzen. |
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Wenn von Cyberkultur die Rede ist, fällt gewöhnlich bald auch das Stichwort Literatur. Es hat sich herumgesprochen: Literatur und digitale Medien befinden sich in einem Verhältnis, dessen genauer Charakter allerdings oft dunkel bleibt. Anlaß zur Verstimmung ist allemal gegeben. Was hat die Literatur mit Technik zu schaffen?, heißt eine der Fragen. Wieso soll ich einen Roman am Bildschirm lesen?, lautet eine andere. Angesichts solcher Aussichten haben die Gralshüter bürgerlicher Kultur schnell forsche Sprüche zur Hand: "Lesen im Internet ist wie Musikhören übers Telephon. Während es aber gewiß niemandem einfiele, Telemann mit der Telekom ins Haus zu holen, haben sich viele Menschen von der Vorstellung einer Literatur im Internet beeindrucken lassen. Literatur im Netz ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon als Idee, weil ihr Widersinn womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen wird." So raunte es Christian Benne 1998 in der Zeit (37/98). Viele werden sich über ein solches ebenso pointiertes wie um Denunziation bemühtes Urteil dieses Blattes nicht wundern. Und doch war es gerade diese Zeitung, die sich 1995 mit IBM zusammentat, um den Experimenten einer neuen Literatur die Aufmerksamkeit ihres Publikums zu schaffen. 1996 fand der erste von Zeit und IBM ausgerufene Wettbewerb für Internet-Literatur statt, der 1997 und 1998 wiederholt wurde. Nicht zuletzt aus diesem Wettbewerb erfolgte die Geburt einer deutschen Szene an Netzliteraten, die unter Netzliteratur.de schließlich ihre eigene Website als Portal und Diskussionsort erstellte. |
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Viele sind ungeduldig und geben schnell auf, wenn sich nicht rasch ein Homer oder James Joyce der digitalen Literatur zeigt. Auch die Partnerschaft von Zeit und IBM, als zwei illustren Vertetern der alten und der neuen Medien, hielt nicht lang. Der Wettbewerb wurde schließlich eingestellt, seine Beiträge aus dem Netz genommen, und die völlig veraltete Linkliste, die die Zeit nun (April 2002) ihren Lesern zur Internetliteratur anbietet, bezeugt, wie wenig man sich dort seit 1998 um das gekümmert hat, um das man sich einst so verdient machte. Zu Recht, weil Homer und Joyce sich im Netz nicht ausmachen ließen? Als müsse nicht auch im Feld digitaler Ästhetik erst reichlich Erfahrung im Experimentieren gesammelt werden. Und als gäbe es nicht vielversprechende Ansätze, die bei entsprechend günstigen Begleitumständen (dazu gehört auch die Aufmerksamkeitssicherheit, die die Kontinuität eines solchen Wettbewerbs schafft) hoffen lassen, daß die digitalen Literaten einst alle beteiligten Bereiche digitaler Literatur -- Programmierung, Screendesign, Text, Bild, Ton -- mit entsprechender Qualität meistern. So erfreut es, daß mit DTV und T-Online sich jüngst wieder zwei Vertreter der alten und neuen Medien zusammenschlossen, um der digitalen Literatur einen Wettbewerb auszurichten, und daß sie sich vom neuerlichen Ausbleiben des Werkes digitaler Literatur nicht entmutigen lassen, sondern im Gegenteil zu einer anhaltenden Obhutschaft aufgefordert sehen, die sich in weiteren geplanten Wettbewerben, aber auch Printpublikationen ausdrückt. |
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Und dies mag genügen als Rück- und Ausblick. Es ist Zeit, den Gegenstand zu klären: Was eigentlich unterscheidet digitale Literatur von herkömmlicher Literatur? Welche Beispiele sind zukunftsweisend? Wie reagieren Presse und Wissenschaft auf das neue Phänomen? |
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I. Was unterscheidet digitale Literatur von herkömmlicher Literatur? | ||||
Herkömmliche Literatur arbeitet mit dem Wort, das still auf dem Papier (oder auch Bildschirm) steht, von links nach rechts, von vorn nach hinten zu lesen ist und zumeist von einer Person geschrieben wurde. Der Text ist ein klar konzipiertes Angebot, das im Kopf seiner Leser Gestalt annehmen soll. Digitale Literatur transportiert Aussagen zwar ebenfalls über das Wort, aber dieses steht entweder nicht still oder ist kreuz und quer zu lesen oder hat mehrere Autoren oder vermählt sich mit Bild, Ton und Video. Wenn man so will, gibt es vier Abtrünnigkeiten von der Ästhetik traditioneller Literatur. |
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1. Das Wort steht nicht still, sondern bewegt sich, blinkt, ändert die Farbe, taucht auf und verschwindet und verweist als Link auf andere Wörter. Das Wort erhält also ein Eigenleben auf der Oberfläche. Man kann einen solchen Umgang mit dem Wort mit der konkreten Poesie vergleichen, wo die Materialität der Zeichen, also der Buchstabe als solcher (seine Größe, Farbe, Anordnung auf dem Papier), Bedeutung erhält. Wenn Eugen Gomringer zum Beispiel viermal das Wort "Wind" schreibt und die Buchstaben in der Form einer Windrose anordnet, oder wenn er das Wort "Schweigen" neben- und untereinander schreibt, in der Mitte aber eine freie Stelle läßt, dann wird die Aussage nicht mehr allein durch das vermittelt, wofür das Wort steht, sondern auch durch die Art und Weise, wie es auf dem Papier steht. Die visuelle Ebene, die sonst in der Literatur keine Rolle spielt (denn der 'Film' läuft vor unserem inneren Auge ab), gewinnt somit an Bedeutung. Im Computer tritt neben diese 'Syntax des Raumes' auch die der 'Zeit' und der 'Interaktion': Man kann dem Wort ein gewisses Verhalten einprogrammieren (zum Beispiel, daß die Windrose sich alle 10 Sekunden neu gruppiert) und man kann dabei die Handlung des Lesers einbeziehen (zum Beispiel daß die Windrose sich auf einen Klick hin umgruppiert). |
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2. Im letzten Fall der Interaktion bestimmt im Prinzip die Rezeption die Präsentation. Dies ist auch ein entscheidender Faktor bei der Hyperfiction, die im Grunde am Anfang dieser Art von Literatur steht. Als Michael Joyce 1987 seinen Roman Afternoon. A Story als Hypertext schrieb, bedeutete dies, die klare lineare Anordnung der Textteile aufzugeben, zugunsten einer Vernetzung dieser Teile, die es dem Leser überläßt, sich die angebotenen Segmente zu einem Ganzen zusammenzustellen. Dies wäre vielleicht die einfachste Erklärung für die Vorsilbe des Begriffs Hypertext: Es handelt sich nicht um einen Text, sondern um ein Mehr an Texten, die durch ihre verschiedene Kombinierbarkeit letztlich auch mehrere Endprodukte ergeben. In der ursprünglichen Definition von Theodor Holm Nelson bedeutet Hypertext "non-sequential writing", konkret heißt dies, daß statt der Formel von A zu B zu C, D, E usw., nun zum Beispiel gilt: von A zu B, dann zu C oder D, wobei C zu M, O und D führt, D aber zu K, M, R und A. Man kann sich leicht vorstellen, daß dieses Verfahren nicht nur Freunde findet. |
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Das Verfahren selbst hat seine Vorläufer übrigens außerhalb des Computers, in den Kombinationsgedichten des Barock und in der experimentellen Literatur der 60er Jahre von Queneau, Calvino, Cortázar und Saporta. Selbst in der Musik gab es Versuche, sich von der linearen Anordnung zu befreien, wie bei Stockhausen oder Pousseur. Die Propheten dieser neuen Präsentationstechnologie im digitalen Medium des Computers beschworen nun die Möglichkeit des Lesers, im Text nach eigenem Gusto zu navigieren, als Befreiung von der Tyrannei des Autors und rezitierten die Schriften zeitgenössischer Philosophen (Barthes, Foucault, Derrida) über den "Tod des Autors" und die Dekonstruktion des Texts. Die Skeptiker hingegen fragten nach dem Gewinn dieser 'Unordnung', unterstellten dem Autor, aus mangelnder Gestaltungskraft eine Tugend machen zu wollen, und sahen vor allem, daß dieser keinen Spannungsbogen entwickeln kann, wenn er es dem Leser überläßt, von B nach C oder nach D zu gehen. Ganz zu schweigen von dem Umstand, daß man von D wieder zu A zurückgeführt wird und dann nochmals zu B gelangt. |
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Man kann Hypertext als MTV-Literatur bezeichnen, denn die Links, die zum Absprung zu einem anderen Textteil einladen, vermitteln eine Ästhetik der schnellen Schnitte, der Ungeduld, die jede kontemplative Geste unterbindet. Und noch etwas: Ein Merkmal von Literatur ist, so Coleridge, suspension of disbelief. Bei der Hyperfiction ist das kaum möglich, denn die Beteiligung am Textaufbau reißt den Leser faktisch ständig aus der Illusion, er kann sich nicht in den Text verlieren, jede neue Link-Entscheidung schleudert ihn an dessen Rand. Insofern also eine Lektüre für Masochisten. Oder für 'Mitspieler', die über die Klick-Gestik eine andere Art der Immersion suchen. Aber man muß vorsichtig sein mit dem Urteil. Diese Betonung des Produktionsprozesses hat Tradition und Lawrence Sterne nimmt mit seinem Tristam Shandy ebenso diesen Effekt des Hypertexts vorweg, wie der von ihm beeinflußte Jean Paul, und auch Brechts Theater der Verfremdung hat schließlich seine Freunde gewonnen. Die Rückführung von D zu A kann ihren wohlberechneten Sinn haben; wenn man die gleiche Szene nun nämlich in einem anderen Licht sieht, das Zwischen-den-Zeilen also durch eine raffinierte Linkstruktur erzeugt wird. Das setzt natürlich voraus, daß man sich auf die Lektüre der gleichen Szene noch einmal einläßt. Insofern ist Hyperfiction wiederum gerade nichts für Ungeduldige. |
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3. Das 'Mitspielen' ist freilich noch viel wichtiger in den Mitschreibprojekten. Auch diese sind ein Phänomen digitaler Literatur, und zwar jener Teil, der als Netzliteratur bezeichnet werden kann. Mitschreibprojekte brauchen das Internet, denn sie basieren auf dem ständigen und spontanen Rollenwechsel von Lesern zu Autoren und umgekehrt. Hypertexte, jedenfalls wenn es keine Mitschreibprojekte sind, brauchen das Internet meist nicht, sondern nutzen es nur als Präsentations- und Distributionsmedium, so wie ja auch die meiste Literatur im Internet (die dann aber nicht zur digitalen Literatur gehört, was die Hyperfiction aufgrund ihrer multilinearen Struktur durchaus tut). |
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Entscheidend an den Mitschreibprojekten ist die Kollaboration und interessant ist vor allem die Dynamik zwischen den Leser-Autoren, die die eigentlichen Helden des Texts sind, an dem sie schreiben. Deswegen kommen bei solchen Projekten schließlich auch eher die Soziologen auf ihre Kosten als die Literaten und Literaturwissenschaftler, die auf gut erzählte Geschichten aus sind. Letzterem steht schon die Demokratie des Verfahrens entgegen: Jeder darf einen Beitrag senden, es gibt keine Evaluation, keine Zensur. Das Dabeisein wird hier zum Kriterium, es ist wie beim Tennis: In einem mittelmäßigen Match mitspielen kann mehr Spaß machen, als einem Meisterspiel nur zuzusehen. |
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4. Die Verbindung von Text, Bild und Ton wird Multimedia oder, wenn sie zugleich non-linear erfolgt, Hypermedia genannt. Hier gibt es eine ganze Menge an beeindruckenden Effekten, und da liegen zugleich die Fallen dieser Gattung digitaler Literatur. Den eindrucksvollen technischen Effekten fehlt es oft an Bedeutung, die über das bloße Zeigen der 'technischen Muskeln' hinausginge, da siegt allzu oft der Ingenieur über den Dichter. Die ambitionierte Präsentation des Bedeutungslosen erinnert dann an jene Ornamentalisierung des Funktionalen, mit der der Kitsch seit Erscheinen des Industrieguts dem inhaltlich Einfachen formale Extraqualitäten geben will. Im Grunde ist der Schnörkel der digitalen Literatur jener technische Effekt, der nicht natürlich aus dem Inhalt erwächst. Die Kunst dieser Spielform ist also, die verschiedenen Sprachen (des Worts, Bilds, Tons und der Programmierung) so zusammenzubringen, daß sie gemeinsam in einer Aussage aufgehen, die anders nicht hätte getroffen werden können. Man muß eine Weile mit der Technik experimentiert haben, bevor man als Autor nicht mehr so leicht auf ihre Versuchungen hereinfällt. Wie die Auskünfte der Teilnehmer des DTV- und T-Online-Wettbewerbs Literatur.digital2001 zeigen, sind sich die Autoren der Gefahr durchaus bewußt -- und verfallen ihr mitunter trotzdem. |
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Während man beim semantisch nicht eingeholten technischen Effekt von schlechter digitaler Literatur sprechen muß, liegt im Falle der bloßen Illustration eines Texts oftmals gar keine digitale Literatur vor. Die Abspeicherung eines Gedichts als HTML-File und die Hinzugabe von Bild und Screendesign (schwarzer Hintergrund, weißer Text, rote Satzzeichen) erfüllt zwar den Tatbestand des Zusammenspiels von Text (und Bild) und Programmierung, ist aber noch nicht auf einen ästhetischen Mehrwert aus, der nur im Reich der Digitalität zu haben wäre. Die im Internet populären Fotoromane zum Beispiel können oftmals ebensoleicht als Buch erscheinen, wenn nur ein Verlag sich dafür fände und Farbbilder nicht so teuer wären. Versieht man diese Online-Fotoromane mit alternativen Navigationsoptionen (räumlich, zeitlich) und linkt man bestimmte Stichworte zu anderen Websites (die Tourismussite eines beschriebenen Orts, eine Reiseagentur, ein Campingausstatter), überschreitet das Ganze zwar die Möglichkeiten des Printmediums, aber solche Links verlieren nur dann ihre Alibifunktion, wenn sie wirklich konstitutiv für die Geschichte sind (wenn zum Beispiel die Tourismussite eine Fälschung ist oder die Reiseagentur eine Parodie auf das Konzept der Pauschalreise, usw.). Wie man mit einfachen Mitteln hintergründige Effekte des Zusammenspiels von Text, Bild und Programmierung und somit tatsächliche digitale Literatur erreicht, zeigen die Beispiele im nächsten Abschnitt. |
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II. Welche Beispiele digitaler Literatur sind zukunftsweisend? | ||||
Wie gesagt: Es fehlt noch der große Wurf. Aber man könnte schon eine passable Sammlung von Teilstücken erstellen. Es ist zum Beispiel interessant, wie in Jürgen Daibers und Jochen Metzgers "Trost der Bilder" der Leser durch einen Trick plötzlich an die Stelle des Helden gesetzt wird.[Anm. 1] Dieser hatte sich in eine Schaufensterpuppe verliebt und für deren magnetischen Blick über Nacht ins Kaufhaus einschließen lassen. Das Gesicht der Puppe erscheint jeweils halbseitig neben dem Text, schließlich ganz, ohne Text, aber nur für einen Augenblick. Die Leser, die jetzt an den Anfang der Geschichte gehen, um diesen Augenblick noch einmal zu erhaschen, gehen damit zwar noch lange nicht so weit, wie der junge Mann im Text, vollführen aber eine strukturell ähnliche Handlung. Die Attraktivität des leblosen Blicks (und damit ja letztlich unsere Imagination) wird somit zum Thema auch im Hinblick auf den Leser. Das ästhetische Mittel ist nicht mehr als die Programmierung einer automatischen Ablösung der Datei durch eine andere. Es ist, als würde der Autor seinen Lesern das Buch vor Beendigung der Lektüre wieder wegnehmen. |
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Unter den Mitschreibprojekten ist Guido Grigats Konzept von "23:40" bemerkenswert.[Anm. 2] Dort kann man für jede Minute eines abstrakten Tages einen kurzen Text schreiben, der dann nur für diese eine Minute am Bildschirm erscheint. Die Schrift ist also nur zu den Bedingungen mündlicher Kommunikation zu haben: Wer nicht zur rechten Zeit am rechten Ort ist, verpaßt die Story. Auf diese Weise kann man, mit welcher Absicht auch immer, die Beschreibung des Sonnenuntergangs in den Morgenstunden plazieren oder durch die entsprechende Verteilung mehrerer Texte eine Schnitzeljagd durch den Tag initiieren. Welch überraschende Effekte sich außerdem ergeben, zeigt die Minute 9:18, in der jemand über das alltägliche Öffnen der Emails berichtet, worunter diesmal auch die Nachricht vom Tod des besten Freundes aus der Schulzeit fällt. 9:19 Uhr gibt dann, vom gleichen Autor, nur drei Worte: "PS: RL ist SCHEISSE!" Damit bleibt fast eine ganze Minute Schweigen für den verstorbenen Freund, bevor das Programm den Text der nächsten Minute anzeigt. Die leere Seite wird so -- als Zeit, die abgewartet werden muß -- zu einer stärkeren Botschaft als der vorangegangene Ausruf; ein interessantes Paradox: Abwesenheit der Schrift als Text. |
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Ein gelungener Hypertext wäre "I Have Said Nothing" von J. Yellowlees Douglas der 1997 übrigens in den Kanon der Norton Anthology of Postmodern American Fiction aufgenommen wurde.[Anm. 3] Hier entspricht das Prinzip der Absprünge aus dem Erzählstrang heraus und der Loops zu schon gelesenen Passagen sehr gut der Unmöglichkeit, einen tödlichen Autounfall in Worte fassen, bzw. gedanklich verarbeiten zu können. Die Links wirken wie Fluchten vor dem, was unausweichlich kommt und benannt werden muß, und auf das man letztlich immer wieder hingeführt wird. Die Technologie des Hypertexts widerstrebt der Sinngebung und hilft so dem Text, Hilflosigkeit und Verlorensein auszudrücken. |
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III. Wie reagieren Presse und Wissenschaft auf das neue Phänomen? | ||||
Daß die Literaturwissenschaft sich mit digitaler Literatur bisher kaum beschäftigte, ist nicht verwunderlich. Sie ist -- letztendlich doch -- eher der Sprache als den literarischen Prozessen verpflichtet und bändelt lieber mit Blaublütigen an, als mit der Schönen vom Lande. Massenkulturelle Phänomene wie der Comic oder Pop-Texte sind da schon Herausforderung genug. Digitale Literatur aber befindet sich gleich doppelt abseits des Kanons. Zum einen ist hier Sprache durch Technik kontaminiert: Im Falle multilinearen Schreibens oder digitaler konkreter Poesie erinnert dies an Experimente aus der Literaturgeschichte und läßt sich forschungspolitisch noch relativ leicht integrieren. Im Falle der multimedialen, programmgesteuerten Projekte gibt der Text soviel Macht an Bild, Ton und technische Effekte ab, daß er es schwer hat, noch im Ressort der Literaturwissenschaft Aufnahme zu finden. Die Interdisziplinarität des Gegenstandes verlangt eine Interdisziplinarität der Forschung, die sich erst langsam und vereinzelt entwickelt.[Anm. 4] |
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Zum anderen fehlen die herausragenden Autoren. Die Meister des Worts bleiben bei ihren Leisten und schreiben Bücher, die manchmal aus PR-Gründen auch zuerst im Netz erscheinen. Diejenigen, die mit der neuen Technik experimentieren wollen, vergessen andererseits mitunter, daß ein gelungener technischer Effekt noch nicht für einen banalen Gedanken oder nachlässig formulierten Satz entschädigt. |
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Auch daß die herkömmlichen Medien sich vor allem an Experimente halten, die gedruckter Literatur sehr ähnlich sind, ist nicht verwunderlich. Zum einen kann man so mit Namen hantieren, die dem Publikum schon bekannt sind. Zum anderen muß man sich dann nicht in unbekannte Techniken einarbeiten, ohne deren Kenntnis ein profundes Urteil über die Literatur, deren Ästhetik wirklich auf digitaler Technologie basiert, kaum möglich ist. In vielen Fällen scheint man auch den Weg ins Netz gar nicht erst zu wagen und lieber von bereits Bekanntem abzuschreiben, womit den Lesern immer wieder Literatur im Netz für Literatur des Netzes verkauft wird. |
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Die eigentliche Verantwortung aber liegt bei den Universitäten. Diese müssen begreifen, daß Wahrnehmung sich zunehmend im Internet vollzieht und die Schule dementsprechend gefragt ist, Wahrnehmungskompetenz auch und vor allem auf dieses neue Leitmedium hin zu vermitteln. Der Literaturlehrer ist da sicher mehr gefordert als seine Kollegen von der Chemie und Physik, deren Gleichungen und Gesetze durchs Netz anschaulicher gemacht werden können, sich jedoch nicht ändern. Literatur aber wird im Netz nicht nur in neuer Weise präsentiert, sie entsteht auch als ästhetisches Ereignis in neuer Weise. Und so wie diese Literatur neue Schreibkompetenzen erfordert, muß man auch erst lernen, sie zu lesen. Welche Bedeutung kommt einem Bild zu, das den Text 'durchwandert'? Was sagt ein Wort, das sich verflüchtigt oder in ein Bild verwandelt? Wie liest man einen vorprogrammierten Ablauf des Lektüreprozesses? Peter Schlobinski, Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Hannover, der durch mehrere Publikationen auch im Bereich der Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung des Deutschunterrichts Interesse für die neuen Medien und die mit ihnen verbundene Literatur zu wecken versuchte, konstatiert eine mangelnde Medienkompetenz der Deutschlehrer, die wiederum der mangelhaften Ausbildung an den Universitäten anzulasten ist: "Es ist zu befürchten, daß wir weiterhin Lehrer produzieren, die zwar klassische Literaturwissenschaft beherrschen, aber den neuen medialen Ausdrucksformen relativ hilflos gegenüber stehen. An dieser Stelle muß eine Bildungsoffensive erfolgen."[Anm. 5] |
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Diese Bildungsoffensive ist überfällig, zumal die besprochenen Phänomene nicht den Bereich der Literatur allein, sondern die Kommunikation generell betreffen. Die Multimedialisierung des Web und die Flash-Technik arbeiten einer Ästhetisierung des Kommerziellen in die Hand, die eine neue Stufe der Warenästhetik bedeutet und sich im übrigen sehr gut mit der allgemeinen kulturellen Tendenz zur Event-Ästhetik verträgt. Zugleich entziehen sich im Prozeß der Perfektionierung des Mediums dessen Eigenschaften (wie die Pixelstruktur der Bilder oder der Verbindungsaufbau beim Aktivieren von Links) zunehmend der Wahrnehmung. Die Fachgruppe "Computer als Medium" an der Universität Lüneburg spricht im Konzeptpapier zum Workshop HyperKult 11 von der "Unsichtbarmachung digitaler Medien". Der britische Netzkünstler Simon Biggs kommentiert den gleichen Sachverhalt: "Der Computer ist nunmehr so alltäglich und verbreitet, daß er unsichtbar geworden ist ... und wie man weiß: wenn wir gelernt haben, die Dinge auf solche Weise wahrzunehmen, ist es gewöhnlich angesagt, sie erneut zu hinterfragen".[Anm. 6] Damit die sogenannte @-Generation der Konstellation des neuen Mediums einschließlich seines "Klickibunti" -- so Beat Suter, der die erste Dissertation über Hypertext in deutscher Sprache, wenn auch nicht in Deutschland, sondern an der Universität Zürich, schrieb -- nicht hilf- und kritiklos gegenübersteht, muß in den entsprechenden Bildungseinrichtungen eine "Hermeneutik der neuen Medien" ebenso vermittelt werden wie die Interpretation von Gedichten. Es bleibt zu hoffen, daß in den Medienzentren, die jetzt an den Universitäten aus dem Boden schießen, nicht nur das personalsparende Tele-Teaching eine Rolle spielt, sondern auch die Ästhetik und Soziologie digitaler Kommunikation in ihren vielfältigen Formen. Und es bleibt zu hoffen, daß die Schulen, wenn sie denn dann einmal am Netz sind, sich gut überlegen, was sie damit nun anfangen. |
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