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no. 18: die jüngste epoche -> ausgegraben
 

ausgegraben

Jeder Wurm nach seinem Geschmack -- Tanizaki Jun'ichirô

von Barbara Damm

Tanizaki Jun'ichirô ist ein Name, den man als Europäer zweimal lesen muß, bevor man ihn richtig aussprechen kann. Und ausgesprochen wird dieser Name in hiesigen Gefilden nun wahrlich nicht oft. Dabei ist Tanizaki in Japan eine Koryphäe -- auch nach seinem Tod im Jahre 1965.

1886 als Sproß einer alten Kaufmannsfamilie in Tokio geboren, beeindruckt Tanizaki schon in der Schule mit stilistischen Glanzleistungen und beginnt 1908 an der Kaiserlichen Universität Tokio das Studium der englischen und japanischen Literatur. Die Veröffentlichung seiner Erzählung Tätowierung (Irezumi) im Magazin Shin-Shichô im Jahre 1910 machen ihn beinahe über Nacht berühmt. Für Tanizaki offensichtlich mehr als nur ein Wink des Schicksals -- er verläßt im selben Jahr die Universität ohne Abschluß und wird im Laufe seines Lebens mit unermüdlicher Schaffenskraft 119 Werke veröffentlichen.

Tanizakis Phantasie entspringen idealisierte Frauen, die er durch seine Fiktionen spazieren läßt. Besonders die frühen Heldinnen verbergen unter der Maske ihrer Schönheit Eigenschaften, die ihr Schöpfer untrennbar mit der Frauenpsyche verknüpft -- Traurigkeit, Eifersucht, Haß, Grausamkeit und andere dubiose Emotionen. Aber auch gegenüber den männlichen Protagonisten verhält er sich schonungslos: In Der Schlüssel (Kagi, 1956) etwa schildert er die qualvollen Versuche eines alten Mannes, seine Erotik wieder herzustellen, und provoziert damit prompt eine Kontroverse über die Unmoral des Romans.

Es wäre aber zu einfach, Tanizaki zum König dämonisch-erotischer Literatur zu krönen und sich mit einem selbstgefälligen Kopfnicken in den Sessel zurückzulehnen. Sein literarisches Bekenntnis läßt sich nicht leicht einordnen. Er schreibt breit angelegt, kraftvoll und präzise: Essays, historische Romane, erotische Literatur, diabolische Erzählungen, Theaterstücke, Drehbücher. Allesamt kreisen diese Werke um eines seiner Hauptthemen: die Suche nach Schönheit.

Zugegeben, einige Romane und Erzählungen handeln von übersteigerter, sich am Rande des Abartigen bewegender Sinnlichkeit. Da verehrt in Biographie der Frühlingsharfe (Shunkin shô, 1933) ein junger Mann seine Harfenlehrerin, eine stolze und grausame Frau, derart, daß er sich das Augenlicht nimmt, als Verbrühungen ihr bildschönes Gesicht entstellen. Solch ein Plot und Titel wie Naomi oder eine unersättliche Liebe (Chijin no ai, 1924-25) sollten den westlichen Leser jedoch nicht auf die falsche Fährte führen, man habe es hier mit oberflächlicher Beschreibung von Erotik zu tun. Es ist vielmehr ein feinfühliges Verlangen nach dem 'Ewig Weiblichen', das die Tanizaki-Protagonisten umtreibt und für das ihr Autor Bilder findet, die in ihrer subtilen Zweideutigkeit der japanischen Sensibilität entsprechen.

Ob die Übersiedlung Tanizakis in das mit traditioneller japanischer Vergangenheit enger verbundene westjapanische Gebiet von Kyoto-Osaka im Jahre 1923 tatsächlich seine immer stärkere Anlehnung an die traditionelle Kultur begründete, soll uns nicht weiter kümmern. Fakt ist, daß sich Tanizaki in dieser Zeit zum Chronisten des modernen Japan entwickelt. Wohltuend klischeefrei setzt er in seinen Texten die Spannung zwischen Alt und Neu, zwischen Ost und West in Szene und erkundet Situationen des Umbruchs, in denen sich Japan zu Lebzeiten Tanizakis befand und noch heute befindet. Er übersetzt 1932/41 das Genji Monogatari (Die Geschichte vom Prinzen Genji) ins moderne Japanisch. 1943/48 entsteht mit Die Schwestern Makioka (Sasame yuki) ein großangelegter Familienroman über das Schicksal von vier Töchtern einer Bürgerfamilie in Osaka; ein Sittengemälde, das in Tanizaki-Manier den Gegensatz von traditioneller und moderner Lebensart reflektiert.

Zurecht sieht die japanische Literaturgeschichte in Tanizaki den großen Traditionalisten. Sein Verdienst um die Literatur -- sich auf eine ursprüngliche, von westlichen Moden unverfälschte Auffassung von Schönheit zurückzubesinnen -- wurde 1937 mit der Mitgliedschaft in der Japanischen Akademie der Künste und 1949 mit der höchsten Auszeichnung, der Kaiserlichen Medaille für Kultur belohnt. Seine Komposition des literarischen Materials zeugt von beinahe architektonischer Schönheit. Kunstvoll konstruierte Handlung und überzeugende Rhetorik verschleiern geschickt, was sorgfältig ausgewählte Details offenbaren. Der schneeweiße Fuß einer Frau, das Motiv eines alten Gemäldes, die Wahl des Essens, die Art, den Tee zu servieren, sind kleine Kunstgriffe, die wie filmische Großaufnahmen die Bedeutung von Handlung und Charakteren entschlüsseln.

Bereits zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere schreibt Tanizaki unter dem Einfluß seines Lehrers Nagai Kafu eine Literatur, die in ihrem Antinaturalismus in klarem Gegensatz zur gerade herrschenden naturalistischen Schule steht. 1918 wendet er sich gegen das Dogma der naturalistischen Schriftsteller, Kunst habe eine Kopie der Natur zu sein:

"[...] gab es je einen Dichter oder Schriftsteller, klassisch oder modern, der nicht frei seine Phantasie gebrauchte? Würde ein Schriftsteller, auch ein naturalistischer Schriftsteller, fähig sein, Wahrheit zu präsentieren, wenn ihm die Kraft der Phantasie fehlte? Wie könnte Kunst existieren, wenn Phantasie aus dem Reich der Kunst ausgeschlossen wäre? Meiner Meinung nach ist jemand nur qualifiziert, ein Künstler zu werden, wenn er von seiner Imagination lebt. Die Phantasie des Künstlers kann dabei weit von der Natur wegwandern [...] [und] ist diese Phantasie dann nicht genauso real wie jedes andere Naturphänomen? Der Künstler rechtfertigt seine Existenz erst, wenn er seine Phantasie in Wahrheit transformieren kann."

Wer mag, entdeckt hier europäische Fin de siècle-Ideen, namentlich die Oscar Wildes. Doch die vielbeschworenen westlichen Einflüsse Edgar Allan Poes oder Charles Baudelaires waren für Tanizaki selbst weniger bedeutend, als manche Kritiker meinen -- wenden wir uns also lieber wieder dessen eigenem Kunstverständnis zu.

 

Traum und Schatten

Formuliert hat Tanizaki seine Ästhetik in dem gefeierten, 1933 erstmals in der Zeitschrift Keizai-ôrai veröffentlichten Essay Lob des Schattens (In'ei raisan). In diesem Entwurf setzt er das schattig-dämmerige japanische Schönheitsideal einer hell illuminierten westlichen Welt mit ihren weißgetünchten Wänden und ihrer Vorliebe für blankgeputztes Silber entgegen. Jede Zeile der Abhandlung ist Ausdruck seiner großen Bewunderung für den raffinierten Umgang mit Licht und Schatten.

Warum Schatten? Die Antwort ist schlicht und treffend: Japaner seien von passiver Natur und paßten sich der Dunkelheit an, anstatt ihr den Kampf anzusagen. Zudem lenke die mit Dunkelheit verbundene Stille den Blick auf die vergängliche Schönheit der Dinge und gewähre Raum für Phantasie. So verwundert es nicht, daß Tanizaki ein spärlich beleuchtetes japanisches Örtchen, das stets vom Hauptgebäude getrennt war, als eine Stätte meditativer Selbstversenkung betrachtet: "In der Tat, es gibt keinen geeigneteren Ort, um das Zirpen der Insekten, den Gesang der Vögel, eine Mondnacht, überhaupt die vergängliche Schönheit der Dinge zu jeder der vier Jahreszeiten auf sich wirken zu lassen, und vermutlich sind die alten Haiku-Dichter ebenda auf zahllose Motive gestoßen."

Japanischer Stil, das sind natürlich nicht nur dämmerige Toiletten mit Blick auf das Blau des Himmels und das Grün des Laubwerks -- die Magie von Licht und Schatten liegt laut Tanizaki auch in einer ganz bestimmten Architektur, in der Textur und Tönung von Papier, in der Eigenart des Tuschepinsels im Vergleich zum Füller; sie wird sichtbar in den speziell lackierten, schwarzen Urushi-Suppenschüsseln, die weniger zum Essen, als viel mehr zum Meditieren anregen, in der bewölkten Schönheit eines Jadesteins und in der Liebe zu Goldlack bei Kerzenlicht, weil die Oberfläche im Dunkeln glitzert und eine 'Traumwelt' reflektiert.

Wer zwischen den Zeilen liest, bemerkt Tanizakis Betrübnis, daß das moderne Japan in jeder Beziehung versucht, Amerika nachzuahmen. Doch es ist nicht nur die Distanz zwischen Ost und West, sondern vor allem die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die er betrauert. Nur die Kunst und Literatur vermögen noch das Halblicht des alten Japan heraufzubeschwören:

"Die Dunkelheit, die das Nô umgibt, und die daraus entstehende Schönheit bilden [...] eine eigentümliche Welt des Schattens, die wir heute nur noch auf der Bühne zu Gesicht bekommen, die aber früher wohl nicht so weit vom wirklichen Leben entfernt war. Denn die Dunkelheit der Nô-Bühne war auch die Dunkelheit der damaligen Wohnhäuser, und die Nô-Kostüme entsprachen in der Musterung und Färbung, auch wenn sie um eine Spur prunkvoller waren, doch wohl im großen und ganzen dem, was die Adligen und Feudalherren jener Zeit trugen."

Nicht zuletzt sind Schatten ein primärer Faktor für Tanizakis weibliches Schönheitsideal. Er liebt Frauen, die im Kerzenschein am schönsten aussehen und erinnert sich daran, daß zur Zeit seiner Kindheit Frauen ihre Zähne schwärzten und ihre Augenbrauen rasierten, um die Schönheit ihres weißen Gesichts hervorzuheben. Diese Frauen, die ihr Leben im matten Schein einer Kerze zubrachten, hatten, wie später seine literarischen Figuren, dämonische Züge:

"Kobolde und Geistererscheinungen traten wohl vorzugsweise aus dieser Art Dunkelheit hervor; und die Frauen, die darin wohnten, hinter tiefen Vorhängen versteckt und von mehrfachen Stellschirmen und Schiebetüren umgeben, gehörten sie letzten Endes nicht auch zur Sippe der Phantome? Dunkelheit umhüllte diese Frauen sicherlich zehnfach, zwanzigfach und füllte sämtliche Spalten und Öffnungen an ihren Kleidern, am Kragen, an den Ärmeln, am Kleidersaum und wo auch immer. [...] Aus ihrem Körper, aus ihrem Mund [...], aus den Spitzen ihrer schwarzen Haare ließen sie Dunkelheit ausströmen, so wie die Erdspinne ihre Fäden ausspeit."

Überhaupt ist Tanizakis fiktionales Reich von Wesen bevölkert, die eigentlich nur im Dunkeln gedeihen. Nicht nur in Der Schlüssel oder Kapitän Shigemotos Mutter (Shôshô Shigemoto no Haha, 1949/50) passieren viele wichtige Vorgänge in der Nacht; der Erzähler der Geschichte eines blinden Mannes (Mômoku Monogatari, 1931) lebt in einer Welt der Dunkelheit; die vier Schwestern Makioka wachsen hinter vielen Türen und Scheiben eines düsteren, traditionellen Hauses in Osaka heran; es sind undefinierbare, beinahe wesenlose Frauen ohne zu bestimmenden Reiz. Ihre Gefühle haben sie unter maskenhaften Gesichtern verborgen und bieten die perfekte Projektionsfläche für Träumer. Daß Schönheit und Sadismus im japanischen Ideal nahe Verwandte sind, weiß man auch bei uns spätestens aus Filmen wie Im Reich der Sinne oder Die tätowierte Frau. Schönheit in Verbindung mit Grausamkeit ist auch Tanizakis liebstes Thema.

 

Illusion und Wirklichkeit

Die Unbarmherzigkeit und besitzergreifende Art seiner frühen Heldinnen, die unbeirrt ihren dunkelsten Gefühlen folgen, weicht später gemäßigteren Zügen. Doch es bleiben zwielichtige Frauen, deren Schönheit nur auf Kosten ihrer männlichen Bewunderer erblüht. Und Tanizaki-Helden wiederum scheinen am glücklichsten, wenn sie psychisch und physisch von der Frau mißbraucht werden, die sie anbeten.

Mit viel Ironie und Selbstparodie zeichnet Tanizaki in Tätowierung seine ersten und wohl bekanntesten Helden. Die Kurzgeschichte erzählt von Seikichi, einem für seine sinnlichen Tätowierungen bekannten Künstler, der die Schmerzensschreie seiner Kunden genießt, die das herabrinnende Blut begleiten. In seine sorgfältig gezeichnete Welt von exotischer Farbe tritt ein weißer Fuß. Dieser Fuß, für Seikichi der Inbegriff von Schönheit, gehört einem unschuldigen, siebzehnjährigen Mädchen -- die perfekte Leinwand also. Seikichi begibt sich ans Werk und läßt seine ganze Künstlerseele durch die Tätowiernadel fließen.

Wie ein sadistischer Voyeur beobachtet der Tanizaki-Leser nun die Leiden des Mädchens, auf dessen Rücken allmählich eine große, schwarze Spinne entsteht. Im Dienste der Schönheit erträgt sie bereitwillig die Qualen des brühheißen Bades, das die Farben des Kunstwerks intensiviert. Zusammen mit der Spinne erwacht auch die wahre, vampirhafte Natur der ursprünglich so scheuen jungen Frau zum Leben. Der Künstler seinerseits verfällt dem selbstgeschaffenen Schönheitsideal in blindem Begehren. Triumphierend erklärt die neue femme fatale: "Ihr, Meister, werdet mein erstes Opfer sein", und erinnert dabei sehr an die schwarze Witwe, die das Männchen nach der Paarung umbringt.

In Insel der Puppen (Tade kuu mushi, 1928/29) bettet Tanizaki den Konflikt zwischen japanischen und europäischen Kulturtraditionen ein in die Geschichte einer zerbrechenden Ehe. Kaname und seine Frau Misako haben sich so weit auseinandergelebt, daß sie versehentliche Berührungen des anderen als beinahe unmoralisch empfinden. Obwohl Misako einen Liebhaber hat, setzen die beiden für Sohn und Schwiegervater 'verheiratete' Gesichter auf; scherzen und lachen können sie nur in Freiheit -- ohne einander. Das Puppenspiel des Bunraku-Theaters, das sich die Protagonisten ansehen, entlarvt ihre abgekühlte Beziehung: "Warum bin ich so allein? Nähre ich in meiner Brust denn eine Schlange, einen Dämon?" Erhält man eine Ehe aus Familienverantwortlichkeiten aufrecht? Kaname liebäugelt mit dem traditionellen, puppenhaften Frauenideal. Der Schwiegervater hat sich eine solche 'Puppe' geschaffen: seine zur idealen Gefährtin 'erzogene' Geliebte O-hisa. Ist es nicht erstrebenswert, eine Frau zu haben, die man nach seinen Bedürfnissen manipulieren kann? Sind die Puppen des Bunraku lebendiger als die leblosen, puppenhaften Frauen aus Fleisch und Blut? Tanizaki beendet diesen Roman mit einem zweideutigen Bild -- Geschmäcker sind eben verschieden.

1956 veröffentlicht Tanizaki seinen gefeierten und gescholtenen Roman Der Schlüssel um einen alternden Professor und seine junge Frau. Das ungleiche Paar findet einen Weg, sich über die Krise ihrer Beziehung auszutauschen, ohne offen ansprechen zu müssen, was Scham und Konvention verbieten: Sie vertrauen ihre Gefühle, Wünsche und Verzweiflungen 'geheimen' Tagebüchern an, die sie wie Köder auslegen, in der Hoffnung, der andere werde sie lesen. Beide erkennen allmählich, daß sie sich in Illusionen verloren haben. Ikuko entdeckt als fragile Tanizaki-Heldin ihre liederliche Natur -- doch die Realität wird sie einholen.

 

Die Welt eines alten Narren

Rund fünfzig Jahre nach Tätowierung beschließt Tanizaki sein Schriftstellerleben mit einer Komödie. Im 1962 entstandenen Tagebuch eines alten Narren (Fûten rôjin nikki) schaut er humorvoll auf die Themen, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen: das Verhältnis von Natur und Kunst, die philosophischen und sozialen Werte.

Und wieder ist der Köder ein weißer Fuß -- traditionelles japanisches Merkmal von weiblicher Schönheit --, der den Protagonisten, wenn nicht in die Hölle, so doch beinahe ins Grab führt. Wie Seikichi in Tätowierung ist der 77-jährige Utsugi Tokusuke von einem Ideal besessen. Was Seikichi nur unter höchstem künstlerischem Aufwand erreicht, versucht der Greis mit einfachen Mitteln: Einen Fußabdruck in roter Tusche will er -- von der angebeteten Schwiegertochter. Wie einst der Fußabdruck Buddhas im Tempel von Nara in Stein gemeißelt wurde, so sollen Satsukos Fußabdrücke in den Grabstein des Alten graviert werden, damit seine Gebeine dereinst in Frieden unter ihren Füßen ruhen.

In Utsugis Tagebucheinträgen, die den Hauptteil des Romans ausmachen, erfährt der Leser alles über das Objekt seiner Begierde: Satsuko, der schönen Gattin seines Enkels, die sich von ihrem betagten Verehrer 'unschuldig' und doch durchtrieben egoistisch mit teuren Geschenken überhäufen läßt. Ein Kuß vom Schwiegervater kommt für die junge Frau zunächst nicht in Frage -- nicht etwa aus moralischen Gründen, nein, weil sie das Gefühl hätte, eine Nacktschnecke wäre über ihre Haut gekrochen. Schließlich lenkt sie ein wenig ein und lockt den Alten mit "speziellen Privilegien" -- mal darf er ihre blanken Zehen berühren oder nach einem Bad das hinter dem Duschvorhang vorgestreckte Bein küssen und mit seiner Zunge an der nassen Wade entlangfahren. Als Utsugis Krankenschwester nach einem solchen Zwischenfall zum therapeutischen 'Halsstrecken' kommt, versucht er, seine Überanstrengung zu verbergen, und weiß doch um die Ursache seines Zustandes:

"Ich spürte Satsukos Fuß noch immer an meinen Lippen und konnte, selbst wenn ich gewollt hätte, einfach nicht davon loskommen. Sicher hatte der Blutdruck seinen höchsten Stand erreicht, als ich Satsukos drei Zehen im Munde hielt. Da ich eine glühende Hitze im Gesicht spürte und mir alles Blut in den Kopf zu steigen schien, fürchtete ich, auf der Stelle an einem Gehirnschlag zu sterben. Jetzt sterbe ich, dachte ich, jetzt sterbe ich!"

Bei aller Absurdität und Komik verlieren die Charaktere nie ihre Würde. Utsugi erzählt seine Geschichte in einem sachlichen Ton und mit durchgehender Ironie. Die erotischen Phantasien des kränkelnden alten Mannes wechseln beständig mit akribischen Berichten über das Einnehmen von Pillen, Akupunktur und Blutdruckmessen. In einem Hotelzimmer in Kyoto nimmt seine romantische Jagd nach Schönheit durch sehr unromantisches Vorgehen ihr Ende: Auf umständliche Weise und mit viel Farbgeklecker fertigt Utsugi endlich die Fußabrücke des genervten Mädchens an.

Tagebuch eines alten Narren wäre kein Roman Tanizakis, wenn sich seine Hauptfigur nicht mit dem alten und dem neuen Japan beschäftigte, von der exquisiten Weiblichkeit des Kabuki-Theaters erzählte (in dem Männer in Frauenrollen die Essenz weiblicher Natur destillieren), über den Tod nachdächte oder vom delikaten Kyotoer Essen schwärmte. Es wäre auch kein Tanizaki-Roman, wenn nicht Gesten und Andeutungen mehr über die Charaktere verrieten, als direkte Aussagen. Utsugis nostalgische Liebe zum untergehenden Mond, die Wahl der Medizin, die Vorliebe für ein bestimmtes Gericht sind Details, welche die schriftstellerische Kunst Tanizakis ausmachen. Der Roman war zwar keine Sensation wie seinerzeit Der Schlüssel, doch ist das Tagebuch literarisch ausgereifter.

Tanizakis Ästhetik des Schattens, seine Vorliebe für nuancenreiche Sprache und versteckte Bedeutungen machen ihn zu einem der lesenswertesten Autoren der japanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Für sein schriftstellerisches Schaffen hatte er sich einst vorgenommen, die schon halbverlorene Welt der Schatten und damit die traditionellen Werte des alten Japan wieder aufleben zu lassen:

"Ich möchte am Gebäude, das sich Literatur nennt, das Vordach tief herabziehen, die Wände beschatten, was zu deutlich sichtbar wird, ins Dunkel zurückstoßen und überflüssige Innenverzierungen wegreißen. Ich sage nicht, daß ich mir das für alle Häuser wünsche; aber wenigstens eines von dieser Art darf doch wohl bestehen bleiben."

Sein Versprechen hat Tanizaki gehalten. Wenn er mit seiner Phantasie in die Tiefen des Unterbewußtseins vordringt, fördert er psychologische -- nie moralische Wahrheit zutage. Der Leser hat teil an der ganz privaten Welt der Protagonisten, liest in ihren Seelen und stößt dabei auf menschliche Natur wie sie ist, nicht wie sie sein sollte. Tanizakis universelle menschliche Komödie auf japanischer Bühne scheint die fortwährende Spiegelung des japanischen Sprichwortes:

"Jeder Wurm nach seinem Geschmack. Manche mögen Nesseln."

Literaturhinweise:

Seit langer Zeit gibt es nun endlich wieder einmal eine deutsche Übersetzung eines Tanizaki-Romans: Gold und Silber (Kin to Gin, erschienen Ende 2003 bei Reclam Leipzig). Dieser Roman aus dem Jahre 1918 erzählt von den Rivalitäten zweier Maler, die sich und ihre Freundschaft zugrunde richten -- im Kampf um Ruhm und Liebe. Begierde, Grausamkeit, Leidenschaft -- die Tanizaki-Themen eben.

Wem die Romane nicht liegen, dem sei noch einmal der bei Manesse weiterhin lieferbare Essay Lob des Schattens ans Herz gelegt -- Tanizakis Reflektionen sind als allgemeine Einführung in die japanische Ästhetik sehr empfehlenswert!

Tätowierung gibt's -- leider nur antiquarisch -- in dem Sammelband Japan erzählt, Übers. Heinz Brasch, Fischer Verlag 1990.

Relativ leicht bekommt man im Amazon-Antiquariat die folgenden Romane: Tagebuch eines alten Narren, Eine Katze, ein Mann und zwei Frauen, Insel der Puppen, Der Schlüssel, Naomi oder Eine unersättliche Liebe.

Mehr lieferbare Tanizaki-Literatur gibt es auf Englisch, z.B. Some Prefer Nettles, The Key, The Secret History of the Lord of Musashi, The Makioka Sisters, Quicksand und A Cat, a Man, and Two Women.

 

autoreninfo 
Barbara Damm studierte Anglistik, Komparatistik und Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Magisterarbeit mit filmwissenschaftlichem Schwerpunkt. Seit 1994 Theaterarbeit an verschiedenen öffentlichen Bühnen und in der freien Szene. Seit August 2005 Festengagement in der Schauspieldramaturgie des Theater Bonn.

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