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no. 17: improvisation -> editorial
 

editorial

"Improvisation ist nicht einfach. Sie ist das Schwierigste überhaupt.
Selbst wenn man vor einer Kamera oder einem Mikrofon improvisiert,
so gleicht man einem Bauchredner oder überlässt es einem anderen,
die Schemata oder Sprache wiederzugeben, die bereits da sind. Viele
Vorschriften sind in unseren Köpfen, unserer Kultur vorgeschrieben.
Alle Namen sind bereits vorprogrammiert. Allein die Namen hindern uns
daran, jemals richtig zu improvisieren. Man kann nicht alles sagen,
was man will. Man ist im Grunde verpflichtet, den stereotypen Diskurs
zu reproduzieren. Und deshalb glaube ich an die Improvisation. Und ich
kämpfe dafür. Aber immer in dem Glauben, dass sie unmöglich ist. Und da,
wo improvisiert wird, kann ich mich selbst nicht sehen. Ich bin mir
selbst gegenüber blind. Und es ist das, was ich sehe. Nein, ich werde es
nicht sehen. Die anderen werden es sehen. Derjenige, der hier
improvisiert wird, nein, ich werde ihn niemals sehen."
Jacques Derrida: Unveröffentlichtes Interview, 1982.
Diese Textpassage ist inzwischen im Pressematerial des Films
Derrida veröffentlicht (Download als PDF-Datei möglich).

 

Als Einführung in unsere siebzehnte Ausgabe von parapluie hier einige Variationen über Gedanken zur Improvisation von Jacques Derrida, die anlässlich eines sehenswerten Films über ihn erst jüngst im Internet veröffentlicht wurden.

"Improvisation ist nicht einfach. Sie ist das Schwierigste überhaupt."

Wer selbst einmal den Versuch gemacht hat, sich etwa bei Proben eines Improvisationstheaters unter die Akteure zu mischen, um auf diese Weise mehr über sich selbst zu erfahren, hat womöglich weniger Schwierigkeiten damit, Jacques Derridas philosophische Äußerung zur Improvisation auch praktisch nachzuvollziehen. Denn beim Improvisationstheater geht es recht unmittelbar um Spontaneität im Handeln, um Gesetze des Augenblicks, aber eben auch um plötzliche Blockaden, die für lähmenden Stillstand inmitten einer vom Gegenüber noch so locker und leicht eingeleiteten Situation sorgen können. Wie sehr aber Improvisation damit bereits zu einer zeitgemäßen Seinsweise gar philosophisch geadelt zu werden verdient, ist eine Frage, die sich mit der Verstetigung solcher zunächst ausgesucht erscheinenden Grenzerfahrungen in weiteren alltäglichen Lebensbereichen beschäftigen muß. Will Improvisation erprobt sein oder läßt sie sich prinzipiell doch nicht erproben? Die Autorinnen, Autoren und Redakteure von parapluie wollen in dieser Ausgabe die Proben auf die Exempel machen, die in ihrer Vielzahl nötig sind, um die Unbändigkeit der Improvisation erfahrbar zu machen, ebenso wie ihre Widerstände gegenüber den Stereotypen, denen sie sich doch nie ganz entziehen kann.

"Selbst wenn man vor einer Kamera oder einem Mikrofon improvisiert, so gleicht man einem Bauchredner oder überlässt es einem anderen, die Schemata oder Sprache wiederzugeben, die bereits da sind."

Derrida, der Philosoph, vergleicht hier den Improvisierenden mit einem Bauchredner. Dieses Bild einer Selbstentfremdung im Sprechen zeigt sich wesensverwandt mit Rimbauds berühmten Diktum "Ich ist ein anderer". Die spontan in der Improvisation gesuchte Originalität führt damit aber weit weniger zur eigenen Authentizität als vielmehr zu einer Form der fremdbeliehenen Originalität. Der Schriftsteller Imre Kertész hat das Diktum Rimbauds variiert und es entscheidend um die Dimension des Seins verkürzt, als er der deutschen Übersetzung eines seiner Bücher den Titel "Ich -- ein anderer" verlieh. Wie improvisiert, ja, wie ein neu eröffneter Improvisationsspielraum erscheint hier ein Bindestrich anstelle eines ungültig gewordenen Ausdrucks gespaltener Seinsgewißheit. Die Lücke tritt auf als der Bauchredner eines Seins, das sowohl dem Ich als auch dem Anderen als letzte Brücke zueinander abhanden gekommen scheint.

"Viele Vorschriften sind in unseren Köpfen, unserer Kultur vorgeschrieben."

Als ungarischer Jude hat Imre Kertész in Auschwitz schon in der Tätowierung einer Nummer auf seinen Arm eine Auslöschung seines Namens erleben müssen, so wie es einst kulturelle Vorschriften Nazideutschlands vorsahen, die somit das Band zwischen Ich und anderem radikal zerstört haben. Der Bindestrich als Bauchredner des Seins ist im Titel des Buches damit auch Chiffre und Platzhalter der Improvisation gegen die Auslöschung des Seins, gegen die Erstarrung im Inhumanen. Der Bindestrich anstelle der konjugierten Form der Herrschaft des Seins ist damit auch ein Strich durch die Rechnung einer Seinsverachtung gegenüber unschuldigen Opfern. Vorschriften ohne Improvisationsspielräume zwischen Ich und anderen erscheinen lebensbedrohlich. Sprachen der Kultur schreiben aber nicht nur unumstößlich vor, sondern Sprachen der Literatur, der Musik oder des Theaters sind es ebenso, die lebensnotwendige Improvisationsspielräume in die Gesellschaft einbringen.

"Alle Namen sind bereits vorprogrammiert. Allein die Namen hindern uns daran, jemals richtig zu improvisieren."

Es sind die Namen innerhalb der Sprache, die Identität vorschreiben sollen. Auch sie sind damit Stolpersteine für die richtige Improvisation. Während nach wie vor jederzeit Unschuldige wegen der ihnen von anderen vor- und zugeschriebenen Identitäten zu Opfern der Verfolgung werden können, gibt ausgerechnet die deutsche Nachkriegsgeschichte Auskunft über Versuche, Biographien durch illegale Namensänderungen kalkuliert zu improvisieren. Ehemalige Nationalsozialisten wurden zu Improvisationskünstlern in eigener Sache und machten bemerkenswerte Karrieren. Nicht länger ihr endgültiges Auslöschen der Namen anderer, sondern das betrügerische Ablegen des eigenen alten und das Annehmen eines neuen Namens bestimmten hier die Regeln ihres Spiels, auf die auch ein Artikel dieses Journals kritisch blickt. Aber ist in derartig gewalttätigem Auslöschen oder betrügerischem Ablegen von Namen bereits die richtige Improvisation am Werk, für die der Philosoph zu kämpfen bereit ist?

"Man kann nicht alles sagen, was man will. Man ist im Grunde verpflichtet, den stereotypen Diskurs zu reproduzieren. Und deshalb glaube ich an die Improvisation. Und ich kämpfe dafür. Aber immer in dem Glauben, dass sie unmöglich ist."

Immer dann, wenn sie um Originalität ringt, nicht ohne dabei das Risiko zu bergen, sind die Waffen der richtigen Improvisation also nicht so sehr gewaltsame Entfremdung und betrügerische Verstellung, sondern wesentliche Unvorhersehbarkeit und offene Begegnung mit anderen. Im Vollzug einer solchen Improvisation lernen wir uns in Situationen der Offenheit und Ungewißheit womöglich besser kennen als in absichtsvoller Selbstermächtigung oder auch nur in eitler Selbstbetrachtung. Und wenn alles gut geht, und dies gelingt hoffentlich nicht nur in den kommerziell vorgespiegelten Improvisationsschablonen von Unterhaltungsshows, wie sie ein weiterer Artikel analysiert, dann kann Improvisation auch den Mut lehren, gerade unsere eigene Zerbrechlichkeit zu erfassen und zu bejahen. Richtige Improvisation sollte uns nicht über andere herrschen lassen, sondern macht uns wohltuend ohnmächtig und unsichtbar für uns selbst, verwandelt ein Ich in einen für sich selbst unsichtbaren anderen, um gerade dadurch sichtbar für andere da sein zu können. Weitere Essays dieser Ausgabe zeigen, wie sich die Kräfte solcher Wandlungen, zweifelsohne jeweils unterschiedlich bedingt, dennoch genauso in Improvisationen der Jazzmusik, des Theaters wie auch in der Ästhetik entfalten und auswirken. Kann also der zur richtigen Improvisation genutzte Freiraum zwischen Ich und anderem ein herrschaftskritischer Bindestrich sein, in dem, allegorisch gesprochen, der Bauchredner unseres eigenen Improvisiert-Seins all diese Aspekte des Spannungsbogens von der Ästhetik bis zur Politik durchläuft und dabei ihn und damit auch uns gleichzeitig überhaupt erst konstituiert? Und vermögen wir diese Stimme zu hören und richtig einzuordnen oder wandeln wir weiterhin zwischen Herrschaft und Freiheit von einer Falle in die nächste? Wohin führt sie uns, die Improvisation?

Die aktuelle Ausgabe von parapluie schlägt für Sie die herbstlichen Breschen ins semantische Feld der Improvisationen, nur ernten müssen Sie selbst. Lassen Sie sich improvisieren von parapluie, oder frei nach Derrida, wie Sie sehen, sehen sie nichts, es sei denn, Sie gehören zu den anderen, die Sie sehen, während Sie sich selbst nicht sehen können.

"Und da, wo improvisiert wird, kann ich mich selbst nicht sehen. Ich bin mir selbst gegenüber blind. Und es ist das, was ich sehe. Nein, ich werde es nicht sehen. Die anderen werden es sehen. Derjenige, der hier improvisiert wird, nein, ich werde ihn niemals sehen."

Thomas Hilger

 

autoreninfo 
Dr. Thomas Hilger (verheiratet, vorher: Dr. Thomas Hennig) arbeitet seit 2003 als Lehrer für Deutsch, Praktische Philosophie (S I) und Philosophie (SII) an der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule in Krefeld. Er initiierte im November 2005 ein Bürgerbegehren für Stolpersteine in Krefeld, in dem Schüler, Kollegen und weitere Mitstreiter sich gegen einen Ratsbeschluß wendeten. Nach seiner Tübinger Promotion (Thomas Hennig: Intertextualität als ethische Dimension. Peter Handkes Ästhetik nach Auschwitz. Würzburg 1996) war er bis 2000 zuletzt als Leiter des Projekts "Kleist intermedial" Wissenschaftlicher Angestellter an der RWTH Aachen. Anschließend Weiterbildung bei Siemens und IBM zum "Experten für multimediales Training". Seit 2002 Mitarbeit als Autor und Redakteur bei parapluie.

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