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no. 17: improvisation
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perspektive |
Vorläufige Verwurzelungenvon Felix Wiesjahn |
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Berlin ist ein lebendes System, lebendiger als viele ihrer Schwestern, aufgrund der hohen Aktivität eines Teils ihrer systemkonstituierenden Elemente. Die Aktivität kann räumliche und symbolische, regel- oder unregelmäßige, feindliche oder freundliche, vorstellende, destruktive und bewahrende Züge haben, sie kann sichtbar und unsichtbar, bedeutsam, minimal und hervorstechend sein -- Es ließen sich noch viele weitere Wörter finden, denn dem wörtlichen Bericht, der Geschichte: jedem Text wohnt es inne, daß sein Blick unscharf und aus großer Höhe sich etwas zuwendet. Das bedeutet dennoch nicht, daß der Leser ein unvollständiges (Wort-)Bild vor Augen haben muß. Nur bleibt die intime Beziehung von Mensch und Wort unerforschlich. -- |
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Trotzdem sollen jetzt Worte fallen über eine virtuelle Gruppe dieser hochaktiven Systemelemente: Die Stabilität eines großen Systems wie etwa einer Metropole kann nur durch Einbindung von ehemals nicht dazugehörigen Elementen erhalten werden. (Andere, von Geburt der Stadt zugehörig, können selbstverständlich ähnliche Aktivitätssymptome aufweisen.) Für die Wahl dieser Gruppe, der außerhalb Aufgewachsenen, dieser virtuellen Einheit, gibt es gute Gründe. Dazu zählen persönliche, aber auch die Auffassung, dem Aufwachsen, der Schule von Kindheit und Jugend große Bedeutsamkeit zumessen zu müssen. Und all die außerhalb Berlins Aufgewachsenen und Zugezogenen verbindet doch zumindest eins -- gerade nicht in Berlin, der verwirrten, etwas lächerlichen, zerstrittenen und vergewaltigten Spreemutter ausgetragen worden zu sein. Den innerhalb Aufgewachsenen, und an dieser Stelle betone ich, wie wenig im Fall von Berlin der Geburtsort eine Rolle spielt, eine solche Homogenisierung überzustülpen, fällt schon deshalb schwerer, weil die Geschichten dieser Urstädter unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Zugezogenen dagegen kommen seit 1989 in eine Stadt, die für sie eins ist und machen sich diese zur Heimat. Davon handeln die obigen Zitate, auch wenn dort Heimat nicht zur Sprache kommt. |
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Die Besonderheit der Verwurzelung, die Schaffung einer improvisierten Heimat, gehört nun zu den Charakteristika dieser Neulinge. Wohl finden sie, auf den Bahnsteigen, den Adern des Systems ankommend, nichts vor, was nicht ohne sie lebensfähig war und auch nichts, was etwas mit ihnen zu tun hatte -- jedoch tragen sie ihr Gepäck in die Stadt hinein, ihre Koffer und Tüten, ihre Hip-Bags, Rucksäcke und Regale, ihre Schränke und Schubladen voller Erinnerungen, Vorstellungen und Zeichen. Dieser kulturelle Ballast (der Sozialisationshintergrund, das zur Verfügung stehende Vokabular) erscheint dem Träger stabil und veränderungslos in Farbe und Gewicht, und erst aus dem Abstand zeigt sich, daß tatsächlich das Dazugekommene mit dem Dagewesenen sich vermischt. Das System wird erfrischt, wird jung durch das Energiegefälle zwischen den kollidierenden Zuständen. Ohne Zweifel trägt die hier verhandelte Gruppe zu einer Verjüngung bei. |
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Anschaulich gemacht sollen die bisher gemachten Ausführungen an der lokalen räumlichen Mobilität, an sonntäglichen Umzügen von einer Wohnung, aus einem Bezirk in eine andere Wohnung, im gleichen oder in einem anderen Bezirk. An jedem Wochenende, zehnmal im Jahr, dreimal in fünf Jahren, gestern oder kommenden Freitag -- wie immer die Privatgeschichte gehen mag, hat doch jeder Teil an der Kollektivgeschichte 'Umzug'. Diese unendlich variierte Geschichte ist jedoch immer Ausdruck für vorläufige Verwurzelungen. Die reine Aktivität, die sichtbar wird, wenn eine Gruppe junger Menschen Treppen hinauf und hinab läuft, eine Kette womöglich bildet und Sachen von einem zu einem anderen Ort befördert, ist nicht das Alleinige. Es sind ebenso die Sachen und die Orte selbst, die die Geschichte von der Vorläufigkeit des Wurzelnschlagens überzeugend machen. Nicht nur die Heimat ist improvisiert, sondern auch Mobiliar und Einrichtung. Die Hände sind voller Vergangenheitsreste, unter die sich Erworbenes mischt. Die häufigen Umzüge erzwingen und fördern eine Auslese der Dinge, die nun repräsentativ durch ein Treppenhaus getragen werden. Wer kann schon aus der Last eines Planwagens auf den Besitzer der Lasten schließen? Und doch wird den Helfern, zusammengestreut und flüchtig wie sie sind, die materialisierte Seele in die Hand gelegt. Natürlich erschließt sich diesen Helern nicht die Heiligkeit der Geschehnisse; sie wollen Wasser, nach Hause, eine Kopfschmerztablette oder einfach, daß es geschafft ist. Dem Umzug folgt der erneute Auszug, der Umzug innerhalb der Wohnung, der zeitweilige Wegzug und die Zwischenmiete, der Leerstand oder der Rückzug. Die lokalen Bewegungen folgen Mustern, die aus je einem Winkel (dem, des Umherziehenden) sinnig scheinen. Ihre aktivierende Kraft auf den Systemstoffwechsel lässt eine ökonomische, ökologische, symbolische, psychologische usw. Verfassung zu. Wichtig ist, daß Heimat keine Essenz ist, kein letzter Rest, keine lokale Größe. Berlin bietet überall Heimatlichkeit. Der Mensch ist eine Blume, die sich bewegen kann, mit mobilem Wurzelwerk und von Standortfaktoren unabhängig. Das improvisierte Leben, in dem Gefühle der Heimatlichkeit diffus und alokal sind, und in dem Verbundenheit nur beim Abstrakten, beim Lebensstil, im Ökotop 'Berlin' oder auch gegen die eigene peer group versprüht und verspürt wird, ist Ausdruck dieser Fähigkeit zur Vorläufigkeit. -- Von hier sind es nur wenige Schritte zur dauernden Improvisation und permanenten Vorläufigkeit, zur Verdrehung oder Abwertung der Bedeutung dieser Worte, also nur wenige Schritte vor dem stets flüchtigen Ziel der Poesie. -- Das Allgemeine des Besonderen läuft nun auf eine Beschreibung hinaus, aus der deutlich wird, wie den außerhalb Aufgewachsene nach ein, zwei, drei Jahren oder Monaten und nach vier, fünf oder sechs Umzügen das ganze riesige Berlin zu einer unteilbaren Heimat wird, wo immer man lebt, wer immer man ist. |
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Hier beginnt die Historiographie, hier verlassen mich die Worte. |
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