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no. 7: der sprung
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Kierkegaards Sprung |
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von Tim Hagemann |
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Der alles entscheidende Sprung ist für Kierkegaard der Sprung in den Glauben. Über den eigenen Verstand und den eigenen Lebensentwurf hinausführend, läßt sich der Weg ins Christsein nicht schrittweise, sondern nur durch einen qualitativen Sprung zurücklegen. Mit der Vernunft unvereinbar ist der Glaube so das, "was die Griechen den göttlichen Wahnwitz nannten." |
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Kierkegaards Sprung weckt sogleich eine deutliche Vorstellung, doch sehen wir stets nur das, wovon wir 'einen Begriff haben'. Der erste Teil dieses kleinen Artikels differenziert daher den Kierkegaardschen Sprung-Begriff, verweist auf die Tradition, in der er steht, und stellt seine Eigenart heraus. Der zweite Teil führt dann die im Begriff sich zeigende Einsicht Kierkegaards mit wenigen Worten zu neuer und, nach der zugegeben nicht ganz leichten Lektüre des ersten Teils, hoffentlich ein wenig vertiefter Anschaulichkeit. |
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I | ||||
Der Sprung ist zu einer Formel für Kierkegaards Denken geworden, und so naheliegend es ist, sie als zu kurz greifend, unzulässig vereinfachend etc., eben als formelhaft, abzulehnen, so darf doch konstatiert werden, daß mit dem Sprung ein charakteristischer Zug der Kierkegaardschen Philosophie eingefangen ist. Er erlaubt eine rasche Verständigung gleichermaßen unter Freunden wie Gegnern Kierkegaards. Beide Seiten vereinigte jener amerikanische Gelehrte in sich, der, mit großer Sympathie für Kierkegaard begabt, das Bonmot fallen ließ: "The leap of faith -- out of the window." Der Sprung erscheint hier als freiwilliger Kopenhagener Fenstersturz und dieses Selbstopfer als Zeichen eines unsinnig anmutenden Vereinigungswillens mit Gott. |
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Aus dieser Perspektive muß es überraschen, daß Kierkegaards Sprung zuerst, wenn auch nicht in erster Linie, ein logischer Terminus ist, der sich an die Aristotelische metabasis eis allo genos anlehnt. Sie meint den unzulässigen Übergang in eine andere Gattung, und Aristoteles nennt in der Zweiten Analytik (I 7) etwa den Schluß von einern arithmetischen Beweis auf einen historischen. Alltagssprachlich wird dieser Übergang meist gar nicht begrifflich, sondern durch ein Standardbeispiel gefaßt: Nachts ist es kälter als draußen. Kierkegaard nimmt nun der metabasis den pejorativen Charakter und differenziert sie in einen dialektischen und einen pathetischen Übergang. |
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Betrachten wir zunächst den dialektischen Übergang, der dem Aristotelischen Begriff weitgehend entspricht. Wenn er keine Verurteilung mehr in sich schließt, so soll damit natürlich nicht logischen Fehlern Tor und Tür geöffnet, es sollen nur notwendige Sprünge des Denkens als solche kenntlich gemacht werden. |
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Kierkegaard illustriert das Problem in den Philosophischen Brocken mit einer von Cicero überlieferten 'kleinen Anekdote' um die Frage, wann aus einzelnen Körnern ein Haufen wird: |
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"Chrysipp experimentierte, um die Zu- oder Abnahme eines Sorites in [einer] Qualität zum Stehen zu bringen. Dies konnte Karneades nicht in seinen Kopf bekommen, wann es geschehe, daß die Qualität wirklich entstünde. Da sagte Chrysipp zu ihm, man könne beim Zählen einen Augenblick innehalten, und dann, und dann -- dann könne man es besser verstehen. Aber Karneades antwortete: Bitte sehr, meinetwegen brauchst Du Dich nicht zu genieren, Du kannst nicht nur innehalten, sondern Dich sogar schlafen legen, es hilft gleichviel; wenn Du aufwachst, beginnen wir wieder, wo Du stehenbliebst. Und so ist es ja auch; es hilft ebensowenig, sich von etwas wegschlafen zu wollen, wie sich zu etwas hinschlafen zu wollen." (S.V. IV 210f)[Anm. 1] |
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Jeder Schluß von einer Quantität auf eine Qualität kann nur mittels eines Sprungs erfolgen. |
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Diesen dialektischen Sprung hatte bereits Hegel erarbeitet und im Kapitel über die "Knotenlinie von Maaßverhältnissen" in der Wissenschaft der Logik die Qualität sowohl in die quantitative Kontinuität gestellt als auch als originär aus ihr herausgehoben: |
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"Aber indem der Unterschied in dieses Quantitative fällt, verhält sich das neue Etwas gleichgültig gegen das Vorhergehende, ihr Unterschied ist der äusserliche des Quantums. Es ist also nicht aus dem vorhergehenden, sondern unmittelbar aus sich hervorgetreten; d. i. aus der innerlichen, noch nicht ins Daseyn getretenen specificirenden Einheit." (21, 365) |
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Dieser Übergang wird ausdrücklich ein Sprung genannt (366). Doch andererseits heißt es, daß hier "das veränderte quantitative Verhältnis in ein Maaß und damit in eine neue Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen" sei (365). Es ist dieses gleichsam selbsttätige Umschlagen, gegen das Kierkegaard mit der Berufung auf Karneades polemisiert. Denn der Sprung läßt sich seinerseits nicht vermitteln. |
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Das gilt auch für den pathetischen Übergang. Es müßte befremdlich wirken, daß Kierkegaard in Trendelenburgs Logischen Untersuchungen Beispiele für das Ethische in der Logik vermißt (Pap. V C 12), wenn darin nicht die erhoffte Gemeinsamkeit mit diesem anderen Hegel-Gegner hinsichtlich der zweiten Art von Übergängen zum Ausdruck käme. Pathetische Übergänge sind Übergänge nicht innerhalb des Denkens, sondern vom Denken zur Wirklichkeit. Einsicht und Absicht gebären noch nicht die Tat: Wenn der Wecker klingelt, läßt das Wissen, jetzt aufstehen zu müssen, den Sieg über die warmen Laken noch nicht erringen. Sprünge ereignen sich nicht, sie werden unternommen. (Das Problem, ob die Natur Sprünge mache -- Hegel gibt in der Anmerkung zum zitierten Kapitel eine Fülle von Exempla -- oder nicht, ist kein ethisches und steht daher außerhalb von Kierkegaards Interesse.) |
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Dialektische und pathetische Übergänge sind freilich keineswegs bloße logische Spitzfindigkeiten. Es geht Kierkegaard stets um die Frage, was es heißt, wahrhaft Mensch zu sein, und so ist der Begriff vor allem im Kontext der ästhetischen, ethischen und religiösen Existenzstadien zu sehen. Diese Stadien bezeichnen bei Kierkegaard nicht einen natürlichen Entwicklungsgang des Menschen, so wie sich die Larve zum Schmetterling entpuppt, sondern die grundsätzlich möglichen Lebenshaltungen. Sie sind durch einen Abgrund getrennt, und der Sprung ist Ausdruck der leidenschaftlichen Entscheidung eines einzelnen Menschen für eine ethische oder religiöse Existenz, während das ästhetische Stadium gerade durch seine wesentliche Wahllosigkeit charakterisiert ist. Innerhalb des Religiösen unterscheidet Kierkegaard wiederum Religiosität A und B: B bricht im Gegensatz zu A mit der Immanenz. Mit A ist eine allgemeine Religiosität, mit B aber das Christentum umschrieben. Das führt uns schließlich auf den eigentümlichsten Gehalt des Sprung-Begriffs bei Kierkegaard: Der Sprung, der alles entscheidet und eine eigene Gattung bildet, ist der "qualitative Sprung" des Christwerdens (S.V. VII 330). |
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Doch läßt sich das Eigentümliche stets nur vor dem Hintergrund der Tradition bestimmen. Kierkegaard beruft sich in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken hinsichtlich des Sprungs auf Lessing und Jacobi (S.V. VII 74ff.). Lessing nennt den Schluß von der Historizität Jesu auf die Göttlichkeit Jesu mit Aristoteles eine metabasis eis allo genos, denn "zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden" (VIII 12). Lessing stellt also fest, daß der Weg in das Christentum eines Sprungs bedürfte, er kann ihn aber um der Vernunftwahrheit willen nicht unternehmen. Jacobi schließt demgegenüber gerade aus deren letzter Konsequenz, als die er den Determinismus ansieht, gegen die Verabsolutierung der Vernunftwahrheit und findet durch einen salto mortale zum Glauben. Der Sprung ist bei Jacobi eine Entscheidung in Kierkegaards Sinne, doch erscheint er mehr als ein Sprung fort von etwas -- von Spinozas Philosophie, der das Gespräch zwischen Lessing und Jacobi eigentlich gilt -- denn hin zu etwas. Lessing sieht auf Kosten des pathetischen, daß das Christwerden nach einem dialektischen, und Jacobi auf Kosten des dialektischen, daß es nach einem pathetischen Übergang verlangt. Gerade aber die Verbindung beider ist für den qualitativen Sprung charakteristisch. |
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Die zitierte These des Lessingschen Sendschreibens Über den Beweis des Geistes und der Kraft an Johann Daniel Schumann, einen Hannoveraner Gymnasialdirektor und Streitschriftgegner, ist in leichter, aber bedeutsamer Veränderung zur Ausgangsfrage der Philosophischen Brocken Kierkegaards geworden: "Kann es einen historischen Ausgangspunkt für ein ewiges Bewußtsein geben, kann ein solcher mehr als historisch interessieren; kann man auf ein historisches Wissen eine ewige Seligkeit gründen?" (S.V. IV 173). Kierkegaard kehrt hier das Verhältnis zwischen den Gliedern um. Während Lessing von der ewigen Wahrheit ausgeht und fragt, wie sie durch ein historisches Faktum bewiesen werden solle, geht Kierkegaard vom historischen Faktum aus und fragt, wie es beschaffen sein müsse, damit sich eine ewige Wahrheit auf es gründen lasse. Das historische Faktum muß nun so beschaffen sein, daß es genau diesen Zwiespalt in sich enthält: Die ewige Wahrheit ist in der Zeit geworden. Das aber ist das Paradox, das in der christlichen Offenbarung gegeben ist. Entsprechend hebt Kierkegaard bereits im Ersatz der notwendigen Vernunftwahrheiten durch ein ewiges Bewußtsein und der zufälligen Geschichtswahrheiten durch einen historischen Ausgangspunkt auf die Singularität des Ereignisses ab. Das historische Faktum selbst ist das Paradox. Nur als Paradox aber kann es dem Menschen mit der Möglichkeit eines Bruchs mit der endlichen Verständigkeit auch die Möglichkeit des Glaubens überhaupt erst eröffnen. Das Paradox des Gottes in der Zeit, der Menschwerdung Gottes in Jesus, läßt sich nicht als eine Vernunftwahrheit betrachten, sondern nur mit einer existentiellen Entscheidung beantworten, sei es, Ärgernis zu nehmen, sei es zu glauben. Die Glaubensentscheidung ist sehr wohl widersinnig, aber alles andere als unsinnig. Indem er auf das historische Faktum die ewige Seligkeit gründet, geschieht der Sprung in den Glauben in Entsprechung zum Inhalt des Paradoxes der Offenbarung. |
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II | ||||
Es fällt auf, daß Kierkegaard den Begriff in den erbaulichen und christlichen Reden kaum verwendet. Doch ist der Sprung auch dort gegenwärtig, als "das Wagestück des Herzens, in dem ein Mensch sich hinauswagt und alle Klugheit und alle Wahrscheinlichkeit aus den Augen verliert" (S.V. V 152). Klugheit und Wahrscheinlichkeit bestimmen das weltliche Leben: Lohnt sich dies oder das? Was kommt dabei heraus? Wer sich aber in dieser Weise auch dem Christentum zuwenden will, hat es schon verfehlt. Denn es erstrebt nicht die Veredlung eines bürgerliches Lebenslaufs, sondern eine Neugeburt. Sie weist auf das ganz Andere. Der christliche Gott ist inkommensurabel mit dieser Welt, und so können wir uns ihm auch nicht schrittweise annähern. Um noch einmal an Karneades zu erinnern: Immer noch ein Körnchen Überzeugung mehr führt nicht zum Glauben. Der Sprung in den Glauben ist indes kein Sprung aus dem Fenster, sondern eher ein Sprung über die Schwelle des eigenen Hauses, nach draußen freilich, in ein anderes, neues Leben, und ohne noch die Tür abzuschließen und den Schlüssel einzustecken. Der Gott läßt sich nicht nebenbei und nicht versuchsweise entdecken. |
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Kierkegaards Sprung ist also ein doppelter: über den eigenen Verstand und über den eigenen Lebensentwurf hinaus. Ohne doch damit die Hoffnung auch für dieses irdische Leben aufzugeben. "Der Glaube ist darum," notiert Kierkegaard in seinen Berliner Tagebüchern (S. 43 bzw. Pap. IV A 109), "was die Griechen den göttlichen Wahnwitz nannten." |
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