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Aufstieg und Niedergang der Dot.com-Euphorie

von Geert Lovink

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Die Informationspolitik unter den Verfechtern der New Economy gemahnt zuweilen an kommunistische Schönfärberei von ehedem, weil eben nicht sein kann, was nicht sein darf -- oder aber sein soll, was sein könnte. Und hinterher hat es dann jeder immer schon besser gewußt. Das Geldverdienen mit digitalisierten Gütern ist, wie sich inzwischen herausgestellt hat, schwieriger als gedacht. Heißt das aber, daß ausnahmslos alles verschenkt werden soll oder muß?

 

Nachdem der Nasdaq die Hälfte seines Wertes verloren hatte, wünschten sich Eigner von Technologieaktien, Baudrillard hätte mit seinem Ausspruch "Das Jahr 2000 fand nicht statt" recht gehabt. Aus der Warte einer kritischen Cyberkultur gibt es wenig Anlaß, den Niedergang der Internet-Startups zu feiern. Der einzige "Zugewinn" besteht nämlich im Auftrieb, den populistische antispekulative ebenso wie moralische antikapitalistische Positionen erhalten. Ganz gleich wie dumm und betrügerisch die Dot.com-Unternehmenspläne waren -- das, was sie ersetzen wird, wird kaum besser sein. Der Dialog zwischen Techno-Anarchisten und neoliberalen Unternehmern wird erbittert geführt, während zwischen Mediengesellschaften und IT-Mogulen Schweigen herrscht. Alle, denen etwas daran liegt, bürgerliche Freiheiten, offene Standards und sozialen Wandel hin zu einer innovativen, technologischen Kultur durch Softwareentwicklung, Investmentstrategien und kulturelle Aktivitäten zu fördern, sollten sich auf eine Phase gnadenlosen Marktnihilismus einstellen. Die Partystimmung in der Internet Economy ist vorbei. Die Phase einer notwendigen Normalisierung ist angebrochen, so daß Verluste und verlorene Investitionen nun ausgeglichen werden können.

Vergessen wir Wirtschaftsmagazine wie Red Herring, Fast Company, Wired and Business 2.0 mit ihrem religiösen Optimismus. Abgesehen von vielleicht The Standard haben die Wachtürme der New Economy bei den Nachwehen des Nasdaq-Absturzes im April 2000 bereitwillig die Augen verschlossen. Die Ähnlichkeit zur Presse kommunistischer Parteien im früheren Ostblock ist bemerkenswert: organisierter Optimismus, Vernachlässigung grundlegender Fakten vermischt mit Porträts ihrer Helden, deren fabelhafte Durchbrüche an der vordersten Front der Finanzvorhaben sie feierten. In der Hoffnung, daß der Sturm im nachhinein doch nicht so schwer gewesen sein wird, hören die Dot.com-Propagandisten nicht auf, ihr Pleite-Mantra als spirituell reinigende Erfahrung zu wiederholen. Risikokapital wanderte vom unsicheren, offenen und freien Web zum nächsten Riesending, dem drahtlosen System der Mobilkommunikation, wo zumindest ein Zahlungssystem bereits vorhanden war. Die Welt des Risikokapitals bleibt jedoch so rauh wie immer und gibt "übertrieben aufgebauschten Dot.com Verlusten und einem unfreundlichen Aktienmarkt" (Tornado-Insider.Com) die Schuld für die allgemeine Malaise.

Angesichts mangelnder kritischer Kommentierung wird es schwierig werden, strauchelnde Unternehmen neu auszurichten, die dickköpfig an ihrer darwinistischen Weltsicht des survival-of-the-fittest festhalten. Es bleibt jedoch keine Zeit für ein evolutionäres Endspiel. Der Vorhang ist zu früh gefallen. Letztlich hat es doch nicht genügend ernstzunehmende Konkurrenten gegeben. Nur entwickelte Märkte kennen den ernsten Wettbewerb.

 

Bull market und positives Denken

Erstaunlich an den New-Economy-Anhängern waren weniger ihre Furcht und Gier, ihre goldrauschhafte Besessenheit, als der auffällige Mangel an Selbstreflexion. Es bestand eine kollektive Weigerung, den ökonomischen und politischen Kontext der Informationstechnologie zu untersuchen und die grundlegenden wirtschaftlichen Gesetze zu berücksichtigen. Die Grundannahme der Dot.com-Ära war, daß der einzelne Unternehmer mit seiner Firma auf jeden Fall Erfolg haben würde, solange sein Wille rein und zielgerichtet blieb. Nachdenklichkeit war schmutzig und brachte nur Probleme. Zweifel oder Rückschläge waren nicht erlaubt. Sie durften nicht geschehen und geschahen auch nicht. Wenn sie es doch taten, galt es, andere zu beschuldigen (insbesondere die Presse der 'alten Medien'). Interne Kritik gab es nicht, da sie die Unternehmensstrategie zur Wertschöpfung (gemessen an Klickraten) in kürzester Zeit zu unterminieren drohte. Durch die Ausgabe von Unternehmensbeteiligungen wurden Dot.com-Mitarbeiter zu Komplizen dieses 'postdemokratischen' Unternehmensmodells. Die Atmosphäre war geprägt von organisiertem Optimismus, einer selbstauferlegten Diktatur des Positiven, vergleichbar mit Sekten. Interne Disziplin wurde auf eine Weise gehandhabt, wie sie nur von den alten kommunistischen Parteien bekannt ist: Dissidenten gab es schlicht nicht. Alle sind glücklich, ist das nicht offensichtlich? Halt den Mund und amüsier dich. Smile :-). Don't worry, be happy. Laß deine positiven Energien raus.

Dot.com-Management funktioniert so: sei spielerisch und denk an nichts anderes als die Erfüllung deiner Aufgaben. Spiel deine Runde Tischtennis, schreib das verdammte Programm und was den Rest betrifft, halt die Klappe. Kritische Stimmen mußten ausgegrenzt werden und wurden als simplistische, eindimensionale und altmodische Ideologen gebrandmarkt.

 

Die komplexe Gesellschaft und ihre Feinde

Kritik wurde grundsätzlich als eine Dinosaurier-Erscheinung betrachtet und kam von jenen, die nicht mit dem Tempo mithalten konnten. Rückkopplung, ein grundlegender Mechanismus der Kybernetik, wurde verbannt, weil sie die prekäre Marktposition gefährden konnte. Die rigide Ideologie permanenten Erfolgs war die Hauptursache dafür, daß der Dot.com-Zusammenbruch von den meisten Insidern der Netzrevolution nicht vorausgeahnt wurde. Er durfte schlicht nicht geschehen. Hatte man sich schließlich nicht längst der Dialektik entledigt? Differenzierung und rhizomatisches Wachstum hatten das lineare These-Antithese-Synthese-Modell ersetzt. In den aufregenden Zeiten des Guerilla-Marketings gibt es keinen Platz für gewöhnliche Hochs und Tiefs. Lange und kurze Wellen, Krise und Rezession, "irrationaler Überfluß" -- alles Konstruktionen bösartiger Köpfe, die versuchen, die offensichtlich endlosen Wachstumspotentiale des Netzes und des globalen Markts herunterzuspielen und allgemein in Frage zu stellen. Diejenigen, die auf mögliche Anzeichen eines Kurswechsels hinweisen, sind Geheimagenten des Negativismus. Das ständige Gerede von überbewerteten Aktien brachte schließlich die Kurse zum Absturz.

 

www.repent.com (Fast Company, Februar 2001)

Internet-Wirtschaftsberater haben immer recht, in guten und schlechten Zeiten. In rosigen Zeiten werden sie unendliches Wachstum der Aktienwerte voraussagen aufgrund des erwarteten Hyperwachstums. In Zeiten der Rezession werden sie genau den Markt beschuldigen, dem sie noch Monate zuvor vertraut haben. Gibt's hier irgendjemanden zu beschuldigen, fragt man sich? Die Experten von Anderson Consulting, Deloitte und Konsorten scheinen mit allem davonzukommen. Es gibt keinerlei Rechenschaftspflicht. Es ist, als würde man den Wetteransager für eine schlechte Vorhersage verklagen. Wie wäre es damit, Internet-Gurus vor Gericht zu bringen und ihnen vorzuwerfen, wirtschaftliche Schlüsselzahlen ignoriert und unrealistische Riesenprofite versprochen zu haben?

Nehmen wir Herrn Nicolas Tingley von Morgan Stanley als Beispiel. Mitten in der Nasdaq-Krise bezeichnet die Australian Financial Review vom 1. Dezember 2000 diesen Investment Banker als einen "interessierten Beobachter das Kurssturzes im Technologiesektor". Ich bin sicher, daß er sich ein Jahr zuvor selbst nicht so vorgestellt hätte. Tingley wird als Hochtechnologie-Skeptiker dargestellt. Er kommentiert "Sechs Mythen über Technologie-Aktien", ein Artikel im Wall Street Journal (17. Oktober 2000), verfaßt von E.S. Browning und Greg Ip. "Die Leute wollten es um jeden Preis glauben, wollten ein neues Zeitalter. Und es ist jedesmal anders -- bis sich herausstellt, daß es das nicht ist." Tingley versucht sich aus der Phase des kurzen Booms von 1999 herauszureden, indem er für die Überbewertung der Technologieaktien die "Psychologie" verantwortlich macht. Die Urheber dieser "Psychologie" bleiben jedoch anonym. Morgan Stanley ist jedenfalls keiner von ihnen. Nein. Sie sind bloß interessiert an den "Gesetzen" und konzentrieren sich auf "gute Gelegenheiten, die man verstehen und angemessen voraussagen kann". Wer also, wenn nicht US-amerikanische Investmentbanken, wie Morgan Stanley, sind die treibenden Kräfte hinter der spekulativen Dot.com-Manie? Die Frage sollte lauten: Wer hat diese Aktien eingangs so hochgelobt? Sehr wahrscheinlich dieselben Journalisten, Analysten und Berater, die nun weitere Verluste voraussagen. Wie können diese Experten mit solch einem Gedächtnisschwund davonkommen? Ich will nicht auf den Pianisten schießen. Friede, Liebe und Verständnis für den Überbringer schlechter Nachrichten. Wie Carl Gunderian in einer privaten Antwort auf meinen Aufruf zur Rechenschaftsablegung schrieb:

"Bevor wir anfangen, diese bezahlten Dot-Taugenichtse zum Schafott zu führen, sollten wir uns in Erinnerung rufen, daß sie bloß der Neigung der Investoren zu Gier und Selbsttäuschung entgegenkommen. Oder, wie es W.C. Field mal formuliert hat, einen ehrlichen Mann kann man nicht betrügen! Andererseits, Selbsttäuschung kann selbst diese Niederlage überleben."

Technologischer Wandel in der Internet Economy ist ein komplexes, dynamisches, integriertes System. Seine Richtung wird zunehmend von Finanzmärkten diktiert, die nicht länger nur die IT-Industrie mit Kapital von außen 'füttern'. Investitionsentscheidungen von Risikokapitalanlegern steuern die Art und Weise, in der Technologien entwickelt werden, prägen also den Lauf der Technologie. Eine wolkige, dichte Informationsstruktur ist intrinsisch verwoben mit ihrem Gegenstand. Diese überempfindsame Umgebung ist zudem offen für eine Vielfalt von Einflüssen wie Wechselkurse, Zinskurse und in gewissem Maß auch die heimische und internationale Politik. Und vergessen wir nicht den Rohölpreis. Alles Faktoren, die als Parameter den technologischen Entwicklungsstand bestimmen, sich ständig wandelnde Rahmenzustände, die genauestens verfolgt werden müssen. Die Medien, seien es Fernsehen, Printmedien oder das Internet, befinden sich in ständigem Wechselspiel mit den Finanzmärkten und dem Technologiesektor und werden so zu einer riesigen Marketingmaschine. Wettbewerb führt hier nicht zu einer Vielfalt von Meinungen und Formaten. Innerhalb dieses turbulenten Klimas 'digitaler Annäherung' gibt es wenig Interesse an unabhängiger Berichterstattung und kritischem Nachdenken zum Thema Neue Medien und IT.

 

Es war einmal... Napster -- Die Kulturrevolution findet (später) statt

Will Kunst wirklich frei sein? Der dezentrale Austausch von Musikdateien über den Napster-Dienst hat die Tonträger-Industrie kalt erwischt. Während Metallica gegen Napster vor Gericht ging, leitete Bertelsmann die Übernahme ein um Napsters Modell des freien Austauschs von Inhalten scheibchenweise in ein auf Subskription beruhendes, Geld einbringendes System zu verwandeln. Während sich Post-Napster-Initiativen wie Gnutella und Freenet allmählich als wahre peer-to-peer-Modelle ohne zentralen Server etablieren, gibt MP3.com bekannt, daß es der Tonträgerindustrie für den Verlust der Verwertungsrechte Hunderte von Millionen Dollar zurückzahlen werde.

Das allgemeine Bild hier erscheint verwirrend. Offensichtlich sind einige sehr realen Widersprüche innerhalb des globalen Kapitalismus stark im Zuwachs begriffen, ohne daß eine Synthese oder ein Kompromiß in Sicht wäre. Sowas wie einen 'Digitalen Dritten Weg' gibt es nicht. An der elektronischen Siedlungsgrenze findet eine reale (konzeptuelle) Schlacht statt, die wenig oder keinen Raum läßt für einen, dem niederländischen Polder-Modell vergleichbaren, großen Konsens, bei dem alle am runden Tisch sitzen und niemand verlieren kann. Während mehr und mehr Daten über die Netzwerke fließen, gibt es ein vergleichbares Hyperwachstum an Daten, welche hinter paßwortgeschützten Firewalls lagern. Der Druck auf die New Economy, endlich mit echten Bargeldflüssen aufzuwarten, stößt sich an den Marketingtaktiken derselben Brut an Leuten, die freien 'Content' herausgeben, um so neues Publikum zur Festigung ihrer Kundenstämme anzulocken. Zwei gegensätzliche Strategien, von Arthur Kroker als die "ermöglichende" und die "erntende" bezeichnet, kollidieren so auf spektakuläre Art und Weise.

'Content'-Anbieter scheinen dabei genauso verwirrt und geteilter Meinung zu sein wie alle anderen auch. Hier gibt es kein richtig oder falsch. Es gibt nicht einmal eine vernünftige linksliberale Position. Die Debatten auf der internationalen Mailingliste nettime zum Beispiel zeigten keinerlei Richtung oder Schlußfolgerung aus den Vorgängen um Napster. Der Verlauf der Diskussion kann im Archiv von nettime verfolgt werden, die am 23. Juli 2000 mit der Betreffzeile "Terror in Tune Town" begann. Gegen den aggressiv vertretenen libertären Standpunkt ("Information will frei sein"), der sich in Programmiercode- und Netzwerkarchitektur einbettet, steht der legitime Anspruch aller, die von eben jenem Teil Information leben müssen, das Hacker und andere der digitalen Öffentlichkeit überlassen. Hat irgendjemand jemals gehört, daß Kunst frei sein will? Kaum. Kunst will bezahlt werden. Mit viel Geld, wenn möglich. Oder sich zu einem akzeptablen Preis verkaufen, je nachdem wie die Erwartungen des einzelnen hinsichtlich seiner Lebensführung aussehen. Programmierer nehmen hier eine Avantgarde-Stellung ein. Diejenigen, die Software schreiben, schaffen die Tatsachen, nicht die Künstler, noch die anderen 'Content'-Autoren wie Journalisten, Kritiker und Aktivisten. Alles, was ihnen traurigerweise zu tun bleibt, ist die Diskussion der Technologiefolgen. Anwälte könnten der weiteren Verbreitung von peer-to-peer-Software ein wenig Schaden zufügen, aber wahrscheinlich nicht viel. Die Lage scheint einigermaßen außer Kontrolle zu sein, wobei der Durchschnittsnutzer am meisten profitiert.

Eine 'Lektion' hat die traditionelle Wirtschaftsgemeinschaft am meisten beunruhigt: "Sachen zu verschenken ist ein einfacher Weg, Freunde zu finden und ein schlechter Weg, Geld zu verdienen." Dem verwandt ist der geheime Wunsch vieler Vorstände, daß "E-mail eines Tages nicht mehr kostenlos sein wird", was in der Aussage mündet "Die Person, die elektronisches Bargeld erfindet, wird Milliardär", (womit dieses Duo zeigt, daß es nichts aus der Dot.com-Manie gelernt hat). Der Vorschlag von Esther Dyson, J.P. Barlow und anderen, die Internet Economy auf dem Schenkprinzip basieren zu lassen, mag Mitte und Ende der 90er Jahre noch getragen haben. Kostenlose Information und Unterhaltung, kostenloser Netz-Zugang und an mancher Stelle sogar geschenkte Hardware haben die kritische Masse an Nutzern geschaffen, um den Einstieg für die Wirtschaft interessant zu machen. Im Rückblick können wir diese Jahre als die Zeit des Hyperwachstums bezeichnen (1995-2000). Risikokapital-Anleger finanzierten alles, solange es nur im Wachstum begriffen war. Das heißt: wachsend in Form von Klickraten. Während dieser ersten Internet-Rezession gab es eine Tendenz, sich auf Kerninformationstechnologien zu konzentrieren, so daß Inhalte und selbst Dienstleistungen ausgeschlossen wurden. Jedes Unternehmen, das das Internet als ein bloßes Marketingwerkzeug benutzte, um nicht-technologische Produkte wie Grundstücke, Tierfutter oder Wein zu verkaufen, ging harten Zeiten entgegen.

Das magische Jahr 2000 hat sich als Wendepunkt herausgestellt. Der innere Widerspruch zwischen dem faszinierend "verlockenden" Aspekt des Freien und dem Druck auf den Internetunternehmen, Gewinne zu erwirtschaften, kam zum Vorschein. Viele Start-up-Unternehmen fanden sich nach dem ersten Quartal in einer abwärtsgerichteten Spirale wieder, konfrontiert mit nahenden Steuerzahlungen und hohen Marketing-Rechnungen, nachdem das erste Risikokapital bereits aufgezehrt war. Und die Kosten haben sich als exponentiell steigend erwiesen: "Es kostet $10, eine Technologie zu erfinden, es kostet $100, ein Produkt zu entwickeln, und $1000, um es mit Vertriebskanälen und Marketingmaterialien auf den Markt zu bringen" (Cisco Chef John Chambers). Die burn rate von Konzepten, Freundschaften, Gesundheit und Gemeinschaften war eine sehr hohe.

Für das Jahr 2000 war der Durchbruch von 'E-commerce' geplant. Ein gewisser Prozentsatz der geschaffenen Kundenbasis sollte das Maß an Vertrauen gewonnen haben, um Güter und Dienstleistungen online einzukaufen. Als Avantgarde der frei grasenden Herde würden Frühkonvertierte den Damm überschreiten und damit eine wahrhafte Internet-Economy gestalten, gegründet auf reale Dollars, die der old economy entzogen und dem Netz per Kreditkartensystem zugeführt werden sollten. In der Annahme, daß sich das Modell der frühen Nutzer von Anfang bis Mitte der 90er Jahre wiederholen würde, wurden eilends Tausende von Unternehmen gegründet, zunächst in den Vereinigten Staaten, bald gefolgt von ähnlich denkenden Unternehmern in Europa und Asien, bereit die ersten elektronischen Konsumenten zu empfangen. Einige erschienen in der Tat. Die 'Prosumenten' kauften ein wenig hier und da (hauptsächlich Software und Bücher), aber nicht genug, um den ausufernd optimistischen Voraussagen zu entsprechen.

Mitte 2000 war E-commerce bereits tot, was soviel hieß, daß sich sein bescheidenes Wachstum als unfähig erwiesen hatte, die vorausgesagten Erträge zu erwirtschaften, welche die allgemeine Internet Economy brauchte, um die nächste Hyperwachstumsrunde (und Risikofinanzierung) zu erreichen. Die Abhängigkeit der frisch börsennotierten Unternehmen von ihren überbewerteten Aktien war die Hauptursache dafür, daß die Abwärtsspirale nach April 2000 so rapide einsetzte. Die Geschwindigkeitsgläubigkeit der New Economy wandte sich jetzt gegen sie selbst: je höher man fliegt, desto tiefer fällt man, mit dem unglücklichen -- manche würden sagen unvermeidbaren - Ergebnis, daß das Mammut die Eiligen zermalmt.

Die besten Überlebenschancen haben immer noch die Unternehmen im Schatten, die nicht am Aktienmarkt gemeldet sind, mit einem nachhaltigen Wachstumsmodell und realen Einkünften, vielleicht sogar Gewinnen. "Bargeld wird König sein", wie Shannon Henry in seinem Ausblick auf 2001 in The Washington Post formulierte (28. Dezember 2000): "Die fröhliche, leichte, 'jeder-wird-gefördert'-Einstellung hat Skepsis, Schwermut und einem massivem Glücksumschwung Platz gemacht. Das Ausschütteln wird andauern, bis die Taschen vieler Unternehmen komplett leer sind." Nach einem goldenen Zeitalter von fünfzehn Jahren würden wir dem Gesetz des sich verringernden Gewinns unterliegen, wie Brad Delong 1997 prognostizierte (vgl. Rewired).

Die Napster-Hysterie von Mitte 2000 trug nicht dazu bei, den dringend benötigten Fluß realer Dollars in Gang zu setzen. Den Propheten des Freien zufolge würden Dienste wie Napster die alte, in diesem Fall die Tonträger-Industrie zu Fall bringen und eine 'new economy' einführen, mit neuen Regeln und neuen Spielern. Ersteres mag in gewissem Maß eingetreten sein, aber von letzterem sind wir weit entfernt. Auch wenn manche Verkaufsabschlüsse in einzelnen Fällen für unabhängige Künstler, die ihre Werke im Netz gratis zu Verfügung stellen, substantiell gewesen sein mögen, die allgemeine wirtschaftliche Situation für 'content provider' bleibt mager. Ohne funktionierendes E-Cash-System werden Nutzer nur für essentielle Informationen wie Finanznachrichten bezahlen. Erste Versuche, PDF-Dokumente bei www.soapbox.com online zu verkaufen, waren vielversprechend, bis dieser Dienst, der sogar Erträge hatte, im Februar 2001 plötzlich ebenfalls schloß.

Erst waren es Softwareprogramme, dann das geschriebene Wort, die 'napsterisiert' wurden. Mit der zunehmenden Kapazität von Chips und Leitungen hat uns die Technologie schließlich in die Lage versetzt, Musik in Dateien vernünftiger Größe zu verwandeln. Die Größe der MP3-Dateien-Downloads der Napster-Nutzer erscheint bei heutigen Standards ziemlich klein. Es wird nur noch wenige Jahre brauchen, bis der Austausch von MP4-komprimierten Kinofilmen mit fabelhafter Bildschirmqualität eine Tatsache sein wird. Digitale Wasserzeichen gegen Raubkopien könnten die Konsumentenbasis in zwei Lager spalten -- mit jenen, denen Vervielfältigungsrechte egal sind auf der einen und jenen, die nicht so technikversiert sind, auf der anderen Seite. Es gibt eine vergleichbare Spaltung im Fall von Software. Die, die einigermaßen clever sind und meinen, daß sie mit raubkopierter Software durchkommen, werden es tun und sich sogar öffentlich dazu bekennen, daß sie Microsoft nicht länger finanziell unterstützen wollen. Die unschuldige Mehrheit wird dem mehr oder minder beipflichten, aber nicht wissen, was zu tun ist, bis ein napsterartiger Dienst von außen die Bühne betritt. Dieser wird kostenlos Pornovideos, Software, exklusive Finanzinformationen und anderes anbieten, wofür die Leute zur Zeit einen Haufen Geld bezahlen.

Angesichts dieser Lage scheinen Künstler, die sich in die Welt der materiellen Gegenstände zurückgezogen haben -- oder von vornherein darin geblieben sind -- die einzigen zu sein, die von der unvermeidbaren 'Napsterisierung' allen 'Contents' verschont bleiben werden. Allen anderen stehen endlose Kämpfe zwischen der Freiheit des Vertriebs und des intellektuellen Eigentums ins Haus. Die Antwort des libertären Gurus ist einfach: Gib alles weg und verdien' dein Einkommen durch Tellerwaschen, mit der Aussicht, möglicherweise zu Konferenzen, Ausstellungen und Performances eingeladen zu werden. Die Alternative ist, sich mit Software zu befassen und eine Mikro-Zahlungssituation außerhalb der kreditkartenbasierten old economy zu entwickeln. Das scheint die einzige wahrhaft utopische Option zu sein, wenn wir uns von den Napster-Rastalocken befreien wollen. Die auf Geschenken basierenden Wirtschaftsgemeinschaften sind ideale Anwärter, um eine neutrale, globale Plattform für E-Cash zu entwickeln, wobei sie dem Gestus, Programmiercodes und Inhalte auszugeben, eine wahrhaft altruistische Note verleihen, anstatt sich bloß als einzige Alternative darzustellen.

(Aus dem Englischen von Anke Bahl.)

 

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