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no. 15: systemversagen
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aufgelesen |
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Markus Orths: CorpusFrankfurt am Main: Schöffling & Co 2002 |
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Das Corpus Delicti ist eine Packung Moltofill. Paul und Christof finden sie im Schuppen, wo sie ihre erste Messe zelebrieren. Das weiße Pulver dient ihnen als Ersatz für Weihrauch, die alte Blumenvase wird zum Kelch. Nur der Wein ist echt. Für Paul, den Sohn eines Weinbauern war es ein Leichtes, ihn aus den Beständen seines Vaters zu stehlen. Christof hat die Rolle des Priesters übernommen, sein Freund assistiert ihm als Messdiener und verkörpert -- mangels weiterer Akteure -- auch die Gemeinde. Die beiden werden bei ihrem Treiben von Christofs Schwester Lisa beobachtet und bei den Eltern verraten. Aus Rache beschließen sie, zu Lisas bevorstehendem Geburtstag den Kuchen zu verderben. Das bereits bewährte Moltofill vermengen sie diesmal mit dem Mehl, das die Mutter am nächsten Tag für den Geburtstagskuchen verwenden wird. Doch es kommt anders als die Jungen geplant haben. |
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Christof Vaters gelüstet es am Vorabend nach Pfannkuchen und die ahnungslose Mutter gibt das falsche Pulver in die Teigschüssel. Obwohl die Pfannkuchen weder wie sonst gelingen noch so schmecken, schlingt der hungrige Vater sie in sich hinein. Anstelle von Fugen und Rissen verschließt das Moltofill nun des Vaters Magen und Darmwände. Er stirbt unter Schmerzen, qualvoll "wie ein endloser Tritt in den Magen, ein einziger Tritt, der so lange dauerte, daß er nicht aufhören wollte, und als er dann doch aufhörte, das Leben mit herausgetreten hatte, das in ihm steckte." |
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Auch Pauls, des Erzählers Vater, wird Jahre später auf ungewöhnliche Weise zu Tode kommen, und Paul wird daran nicht unbeteiligt sein. |
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Was sich wie der fulminante Auftakt zu einem ungewöhnlichen Kriminalroman liest, ist genau besehen alles andere als dies. Denn im Folgenden erzählt Markus Orths aus der Perspektive von Paul die Entwicklung der so verklammerten Freundschaft der beiden Jungen. Der zwölfjährige Christof fällt nach dem Tod des Vaters in ein monatelanges Schweigen. Erst eine gemeinsame Reise mit Paul und dessen Vater zu einer Weinmesse im nahen Frankreich befreit ihn aus seiner Zurückgezogenheit. Dort kommt es nach einer Weinprobe nachts im Hotelzimmer zu einer ersten zaghaften, ihm selbst noch unverständlichen Berührung: Ohne das der berauschte Paul weiß, was und wie ihm geschieht, macht sich sein Arm 'selbständig' und gleitet auf den schlafenden Christof nieder. Spätestens jetzt wird der Leser gewahr, was die beiden Jungen selbst nicht wissen, sondern allenfalls diffus verspüren. Unter ihrer jungenhaften Kumpanei keimt ein erotisches Begehren. Als Paul und Christof sich im folgenden Herbst nach der harten Arbeit der Traubenlese Schulter an Schulter verschwitzt an der Kelter mühen, bricht es zum ersten Mal auf. Doch diesmal werden die beiden vom Vater gesehen. Die Eltern beschließen die Jungen zu trennen, und so wird Christof, seinem Kindheitswunsch folgend, auf den Weg des Priesters gebracht und in ein Klosterinternat geschickt. |
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Am Grab von Paul Vater treffen sie sich Jahre später wieder. Christof ist inzwischen Priester geworden, Paul hat in Amerika studiert und dort begriffen, "was sich abgespielt hatte, an der Kelter und in der Zeit davor und danach, [...] was mir damals, wie ich empfand, angetan worden war" (S. 150f). In Amerika ist es ihm gelungen, sich zu befreien, sich aufzulehnen gegen das "Schweigen, Vernebeln, Nichtaussprechen, ... Nichtsehenwollen". Über sein erfolgreiches coming-out berichtet er seinen Eltern in kränkender Offenheit auf Postkarten, zwingt sie, "sich die Dinge vorzustellen, die ich tat, meinen für sie so unbegreiflichen Lebenswandel." (S. 151). Erst als er seinen Zorn aus sich herausgeschrieben hat, kehrt er wieder heim. Den Vater trifft er im Weinkeller an. Als dieser den Ankommenden zunächst nicht bemerkt, sich dann umdreht, den Sohn erkennt, bricht er tot zusammen. |
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Ein Buch über den Vatermord also, eine neue literarische Bearbeitung des Ödipusmotivs mit homosexueller Variante? Wenngleich diese Idee nicht ganz von der Hand zu weisen ist -- schließlich deuten viele Indizien darauf hin -- , trifft sie wohl doch nicht die Kernaussage von Corpus. Sicherlich arbeitet Markus Orths im Roman immer wieder mit der Metapher des Körpers. Nicht nur in den Schilderungen der zu Tode gebrachten Väter wird dies deutlich, viel mehr noch in den eindringlichen Beschreibungen der begehrenden und begehrten Körper der jungen Männer. An anderen Stellen geht es um den kranken, den verletzten, den geschlagenen und den trainierten Körper. Immer wieder präsent ist im Hintergrund die Vorstellung des Corpus Christi. Symbole aus der Geschichte der Gemeinschaft der Christen durchziehen den gesamten Roman. Immer wieder arbeitet Orths mit der Methapher von Blut und Wein, der Weinstock steht für das ewige Leben, das Zeichen des Fisches für die geheimen Anfänge der Christenheit, die Motive der Verderbnis bringenden Schlange, der Heimkehr des verlorenen Sohnes, der nächtlichen Gewissensprüfung finden sich in abgewandelter Form im Text verarbeitet. Unübersehbares Indiz für die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche ist schließlich die die Gliederung des gut zweihundertseitigen literarischen Corpus: Die Einteilung der einzelnen Kapitel folgt den Phasen des römisch-katholischen Messrituals. Vom Einzug (Introitus) über das Schuldbekenntnis (Confiteor) bis zur Entlassung (Ite, missa est), in der allerdings Christofs Suspendierung aus dem Priesteramt angedeutet wird, schafft Orths es fast durchgängig die Sequenzen der Romanhandlung mit der Abfolge der liturgischen Struktur zusammenzuführen. |
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Man mag den Roman daher auch als eine Abrechnung mit einer nach wie vor körperfeindlichen Einstellung der katholischen Kirche oder als eine subtile Anklage derselben lesen. Insbesondere das Hadern des jungen Priesters Christof mit der ihm auferlegten zölibatären Pflicht und sein -- allerdings nur angedeuteter -- Rückzug vom Priesteramt sprechen für diese Sichtweise. Den Schlüssel zur Markus Orths Intention liefert meiner Meinung nach jedoch eine andere Episode. Es ist die an zentraler Stelle des Romans eingefügte Geschichte um einen scheintoten Körper. |
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Die Geschichte ist verschachtelt angelegt. Ina, eine Freundin, die Christof durch einen von ihm verschuldeten Autounfall kennengelernt hatte, erzählt sie unter Berufung auf mehrere historische Quellen. Sie handelt von einem Mönch, der mit der Bitte um seelischen Beistand zu einem für tot gehaltenen Mädchen gerufen wird. Allein mit ihm in einem Zimmer erliegt er den Reizen ihres attraktiven, wehrlosen Körpers und schwängert das Mädchen. Diese Geschichte, so erzählt Ina, sei von einem Arzt als Beweis für das Phänomen des Scheintodes aufgeschrieben und veröffentlicht worden. Andere Mediziner hätten sie aufgegriffen, bezweifelt und wieder verteidigt und sie habe so in der Medizingeschichte zu einer kontroversen Diskussion über das Verständnis der Geschlechter geführt. Genau an dieser Stelle -- das Kapitel ist bezeichnenderweise mit "Credo" überschrieben -- lässt Markus Orths seine Protagonisten den zentralen Gedanken seines Buches entwickeln. Es ist die Auseinandersetzung über das Verhältnis von biologischem und sozialem Körper, über die im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung mit Sexualität verbundenen Erwartungen und Normierungen. Die durchscheinende These von Orths dazu lautet, daß Zweigeschlechtlichkeit als eine soziale Erfindung verstanden werden muss, daß wir 'unser' Geschlecht auf der Grundlage gesellschaftlich vorbestimmter Klischees inzenieren. Der Fach'frau' wird diese Argumentation aus 'feministischen' Diskussionen der siebziger Jahre (Judith Butler) vertraut und nachvollziehbar sein, dem nicht einschlägig vorgebildeten Leser gewiss nicht. Der Freude an der Lektüre des Romans tut dies jedoch keinen Abbruch, denn die besagte soziobiologische Erörterung wird in den folgenden Gesprächen der Freunde, die Christofs Coming-out-Problem freilich längst bemerkt haben, nicht fachwissenschaftlich ausgewalzt sondern allenfalls feinfühlig aufgenommen. |
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Trotz solcher und ähnlicher gewichtiger Gedanken ist es Markus Orths gelungen, seine Erzählung erfreulich schwerelos und gut lesbar zu gestalten. Dies liegt mit Sicherheit auch an der äußerst klaren Sprache. Gerade dort, wo der Autor seine Protagonisten in recht spezielle Metiers führt -- in die Weinberge und Weinkeller, Kirchen und Pfarrhäuser -- besticht der Roman durch einen wohltuend unprätentiösen Sprachduktus. |
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(Ulrich Steuten) |
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Néstor García Canclini: Latinoamericanos buscando lugar en este sigloBuenos Aires: Paídos 2002 |
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"Uruguayer, Uruguayer, wo seid ihr nur hin?" singt der Murgista Jaime Ross. In seiner populären Milonga erhält der Sänger Briefe aus den entlegensten Vororten von Kolumbien, Amsterdam und New York. An die Emigranten antwortet er mit der bidirektionalen Warnung: "Zurückzukehren hat keinen Sinn, dort zu leben auch nicht." |
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Das ist für den Argentinier Néstor García Canclini im mexikanischen Exil Ausdruck dafür, daß die Lateinamerikaner im Zuge der Globalisierung ihren Ort in der Welt verloren haben. Aber dieser Nicht-Ort der Lateinamerikaner ist nur eine Interpretation der Globalisierung. In einer anderen schreibt García Canclini den Lateinamerikanern eine Vielzahl von Orten zu. Durch die massenhafte Emigration -- in Uruguay hielten sich im 20. Jahrhundert Geburten- und Abwanderungszahlen die Waage -- haben sie sich als Migranten in alle Welt verteilt: Das 'Lateinamerikanische' habe sich losgelöst, überschreite die Grenzen seines Territoriums und werde dabei auf versprengte Pfade abgetrieben, so García Canclini. |
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Nicht-Ort und 'Allgegenwart' sind die zwei Fluchtlinien der Argumentation in Latinoamericanos buscando lugar en este siglo. Der Horizont, vor dem das Nachdenken über den Ort der Lateinamerikaner im angehenden 21. Jahrhundert stattfindet, ist ganz klar das Jahr 2005, in dem die Unterzeichnung des Vertrages über die panamerikanische Freihandelszone ALCA ansteht. Der Vertrag könnte die Abhängigkeit des Subkontinents endgültig besiegeln, wenn nicht genügend Widerstand aus den lateinamerikanischen Ländern gegen die einseitig die USA begünstigenden Klauseln erwächst. |
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Das Buch von García Canclini vereint gleichermaßen Rückschau und Vorausblick, Analyse und Agenda. Ein ungewöhnlicher Ansatz für die Studie des Leiters des Instituts für Stadtkultur an der Universidad Autónoma Metropolitana de México: Was wird und was könnte bis ins Jahr 2010 mit Lateinamerika passieren? lautet seine Einstiegsfrage. Zwei Optionen sieht der Autor für die künftige Entwicklung. Zum einen die Fortsetzung der bisherigen Politik, was unweigerlich in eine noch stärkere Abhängigkeit von ausländischen Investoren, eine noch höhere Krisenanfälligkeit und Abwanderung in die Metropolen der Ersten Welt führen würde, zum anderen ein Szenario der Rückbesinnung auf eine endogene Entwicklung, den Schutz und die Förderungen des lokalen Kulturerbes, der Bildung und des Wissenschaftsbetriebs. |
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Durch seine Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung kommt er zu dem Schluß, daß der Kulturindustrie dabei eine Schlüsselrolle zufällt. Die durch die Privatisierung und Dollarbindung in vielen Ländern ausgelöste Deindustrialisierung habe viele junge und gut ausgebildete Leute ins Ausland getrieben, die meisten der Kulturschaffenden aber hielten sich noch in den Ländern auf. Und, wenn man die Produktion der lateinamerikanischen Länder in den Bereichen Musik, Fernsehen, Literatur und Kunst betrachte, käme ihnen immer noch eine gewisse Rolle zu. Hier macht der Autor ein Potential aus, das es in den kommenden Jahren zu entwickeln gilt: |
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Neue Arten zu erzählen, Weltsichten, Kreuzungen verschiedener Kulturen hätten die Lateinamerikaner in ihrem Repertoire, verspricht García Canclini, eine Vielfalt von Kulturen, eben nicht nur die von Verlagshäuser der Ersten Welt geprägte Marke Magischer Realismus. Nur beeilen müssten sich die Länder, denn sonst würden sich andere der Bilder bemächtigen, definieren was das 'Lateinamerikanische' ist. Schon jetzt drehe Hollywood seine Science Fiction-Filme in Mexikostadt: Weil die Stadt an manchen Ecken aussähe wie nach dem atomaren Fallout. Es käme darauf an, die Hoheit über die Bilder wiederzuerlangen, sich von den Stereotypisierungen der andern zu befreien und eine lateinamerikanische Identität im Zeichen der Globalisierung selbst zu gestalten. Den lateinamerikanischen. Emigranten in Miami, New York und Barcelona kommt dabei eine Brückenfunktion zu. Zum einen als Vermittler der Anliegen ihrer Ursprungsländer in den Metropolen, zum anderen als Konsumenten für die Produkte der lateinamerikanischen Kulturindustrien. |
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Die große Gefahr sieht der Autor darin, daß die transnationale Kulturkonzerne einseitig bestimmen, was wo wann veröffentlicht werde. So sei es durch die Krise in Argentinien so weit gekommen, daß Bücher von einer ganzen Reihe wichtiger argentinischer Autoren nur noch in Spanien publiziert werden, obwohl die Verlage in Argentinien Zweigstellen unterhalten, diese aber von ihren Mutterhäusern angehalten sind, Bücher erst ab einer gewissen zu erwartenden Mindestverkaufszahl aufzulegen. Dadurch wird die Kommunikation zwischen Autoren und ihrem Publikum unterbrochen. Die argentinische Tageszeitung Clarín bezeichnete dieses Phänomen als "unsere ausländischen Autoren". |
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Aber nicht nur im Bereich der Fiktion, auch in der Wissenschaft bestehe gewaltiger Nachholbedarf: Die Studien lateinamerikanischer Wissenschaftler würden -- auch wenn sie in spanischen Verlagen untergebracht würden -- nur auf dem Buchmarkt ihrer jeweiligen Länder angeboten. Umgekehrt würden aber europäische und nordamerikanische Forschungen in ganz Lateinamerika verkauft. Wie können also Lateinamerikaner wissen, was in anderen lateinamerikanischen Ländern gedacht, geforscht und an Erkenntnissen gewonnnen wird, wenn es keinen Zugriff auf dieses Wissen gibt? Die Institute der Latin American Studies jenseits des Río Grande aber dieses Wissen abziehen und für ihre Zwecke auswerten? Die Nähe zur geopolitischen Agenda der US-Regierung ist augenfällig: Das Wissen über die Andern ermöglicht in einem zweiten Schritt den Zugriff auf ihre Ressourcen. |
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Wie man schon an dieser Stelle sieht, sind verschiedene Lokalitäten und Temporalitäten im Spiel, zwischen denen es zu vermitteln gilt. Im internationalen Wettbewerb müssen schwächere Partner geschützt werden. García Canclini begreift Kulturen dennoch nicht als Essenzen, sondern als Aufgaben, lieber von Identität, will er auch im Fall Lateinamerikas von Identifizierungen mit verschieden Sprachen, verschiedenen Lebensstilen reden. Für seine Forderung nach Quotierung und Förderung der lokalen Kulturproduktion findet er Vorbilder in Frankreich und Kanada. In Lateinamerika fehlten vergleichbare Gesetze und Quoten, obwohl es Versuche gegeben hätte, z.B. das nationale Kino zu unterstützen, diese Initiativen aber auf Druck von ausländischen Lobbies immer wieder fallen gelassen wurden. |
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So ist García Canclini am Ende seines Buches wieder am Anfang: Die Lateinamerikaner globalisierten sich als Kulturschaffende, als Migranten und als Schuldner. Die Migration stellt für ihn dabei, wie aufgezeigt, einen ambivalenten Faktor dar, die Auslandsschuld einen eindeutig negativen. García Canclini fordert auch in diesem Punkt ein Umdenken. Er stützt sich auf Joseph Stiglitz und dessen Feststellung, daß die meisten der Länder Lateinamerikas bereits ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Schuld an Zinsen und Tilgung zurückgezahlt haben. Die großzügig gewährten Entwicklungskredite erweisen sich im Nachhinein als umgekehrter Kapitaltransfer in Richtung der Geberländer. |
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Das Buch ist aber keine einseitige Anklage der Industrienationen, es ist auch eine Abrechnung mit den politischen Eliten Lateinamerikas, die ihre Länder in diese Krisen geführt haben. Hoffnungsvolle Zeichen sieht er vor allem in den Reaktionen der Bevölkerung. Selbstorganisation und Autogestion ('Selbsthervorbringung') treten an die Stelle, wo die Politik des Staates versagt oder sich schon lange zurückgezogen hat. Aus der strukturellen Krise emergiert eine lateinamerikanische Zivilgesellschaft. Das könne an vielen Prozessen beobachtet werden, wo Menschen als Antwort auf die Auslöschung von 'populären Kulturen' und die Aufgabe des Kulturerbes durch die Militärdiktaturen neue Formen der Organisation finden, wie im Chiapas, den Kämpfen der Mapuche in Chile, der Indígenas in Ecuador und Guatemala, den Landbesetzungen in Brasilien und den Straßensperrungen und Nachbarschaftsversammlungen in Argentinien. |
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(Timo Berger) |
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Benjamin von Stuckrad-Barre: BlackboxMünchen: Goldmann 2002 |
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"V. Hyperlink |
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Seit April 2002, zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung, gibt es sie, die Taschenbuchausgabe von Benjamin v. Stuckrad-Barres Buch Blackbox, Untertitel: "Unerwartete Systemfehler". Dazwischen liegt noch die heitere und hörenswerte 2001-Odyssee in den Klangraum, nämlich Voicerecorder. Ausgewählte Aufnahmen der Blackbox-Tournee. Im Buch selbst findet sich ein klarer Appell an die Blackbox des Online-Rezensenten (gibt es ihn, oder gibt es ihn nicht?), einen Hyperlink auf diesen Text zu erzeugen, womöglich sogar deren römisch V oder auch nur einen, den aber gleich mit einem punktierten Adelssignum im Sinne von 'Von Hyperlink'. Oder lesen wir einfach besser nur ungefähr so etwas wie Viperlink, was immer dies dann heißen sollte, aber immerhin gemacht hätten wir was. |
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1975, also im Geburtsjahr des Autors, der sich auf seiner Website in seinem Logo oder besser gesagt in seinem Popliteratenadelswappen onlinerezensentenfreundlich mit BvSB abkürzt, erschien der Gedichtband Westwärts 1&2 von Rolf Dieter Brinkmann, der lange Zeit vergriffen war und erst in dem Jahr wieder neu aufgelegt wurde, als bereits auch BvSB ein Buch mit dem sich allerdings poetologisch streng gegen bloße Wiederveröffentlichung verwahrenden Titel "Remix" herausbrachte. Als Missing Link zwischen beiden Autoren bietet BvSB in seiner Blackbox vor dem Kapitel "Dialogfelder" ein Zitat von Rolf Dieter Brinkmann an: |
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"Von früh |
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Mit anderen Worten, auch Pop-Poeten fallen eben nicht wie Voicerecorder vom Himmel, und Live-Mitschnitte einer humorigen Jungliteratenabendunterhaltungsshow sind nicht unmittelbar zu verwechseln mit den intermedialen Schnitten, wie sie Brinkmann in die Literatur zur ehemals noch kritischen Erkundung von Sprachgrenzen eingeführt hat. |
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Die Zitate, die BvSB in seiner Blackbox verankert, wirken aber keineswegs nur wie Stimmen tragisch verstorbener Literaten aus dem Voicerecorder, wenn sich neben Rolf Dieter Brinkmann eben auch noch ein Zitat Walter Benjamins ausmachen läßt. Es sind auch Dialogfelder, die uns ebenso mit zeitgenössischer Popmusik wie auch mit lebenden Kultautoren und Kognitionswissenschaftlern verlinken können. Scheinbar rettende Ausgänge aus den häufig von BvSB beschriebenen banalen Alltagsgrenzüberschreitungen, die komischerweise fast nichts mehr eröffnen, was noch ein kritisches Verstehen als lohnend erscheinen ließe. Texte wie "speichern unter: krankenakte dankeanke" sind dann wirklich der Tod des Kritikers, der nicht mehr zwischen ironisch verspielter, leichtfüßiger Medienschelte des Herrn BvSB und der schwermutlosen Egozentrik ihres Autors unterscheiden kann. Aber so institutionell verstorben, wie sie nun einmal sind, können sich Gott, Autor, Leser und Kritiker dessen gänzlich ungeachtet zu solchen multimedialen Live-Veranstaltungen von BvSB einfinden, in denen es noch, wenn nichts zu machen, so doch was zu lachen gibt. Der deutlich an den Publikumsreaktionen auf MC ("Liverecordings") und CD ("Voicerecorder") spürbare Spaßfaktor der Unterhaltungsshows, der für die tatsächlich Anwesenden noch audiovisuell gesteigert gewesen sein dürfte, verleitet mich eindeutig dazu, beim nächsten Auftritt von BvSB lieber nach der Eintrittskarte als nach dem Buch zu greifen. Der höhere Spaßfaktor, der hier den Weg noch nicht zurück zwischen die Buchdeckel finden mag, er macht hier den Unterschied. Und doch: sehenswertes "Deutsches Theater" von BvSB gibt es inzwischen doch nicht mehr nur auf der Bühne, sein letztes Buch wirkt weit eher wie eine augenöffnende Eintrittskarte zum eigenen Live-Erlebnis als lediglich wie ein blasses Drehbuch für eine unterhaltsame Multimedia-Show. Das Lesen intensiviert sich hier gegenüber der Blackbox-Lektüre spürbar im sichtbar kritischer gewordenen Schnittraum von Lesen und Schauen. |
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V. Hyperlink, ein Gedicht an den Spaßfaktor? |
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(Thomas Hilger) |
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