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no. 25: Übertragungen -> galerie
 
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Ein deutsches Menschenzimmer -- Über den Maler Simon Pasieka
von Cay Marchal

Mit einem wissenschaftlich geschulten Verstand wird man schnell einsehen, dass Atelierbesuche in diesem Jahrhundert nichts mehr verloren haben: Atelierbesuche wären nur möglich, wenn es Künstler zu sehen gäbe, aber Künstler gibt es nicht zu sehen, weil das Künstlersein längst universal geworden ist und die Grenzen der Körper (in denen es, das Künstlersein, ja unzweifelhaft einmal aufbewahrt war) überschritten hat. Ein Atelierbesuch wäre heute vielleicht nur bei einem Marquis de Sade möglich: bei einem, der noch in seinem Körper haust und auf seinem Körper die Spuren künstlerischer Transzendenz hinstenographiert. Aber wie würde man einen solchen de Sade heute überhaupt noch erkennen können, wo doch alle wie der Marquis leben?! Wie würde man sein Atelier überhaupt ausfindig machen können, wo es doch nirgendwo angemeldet ist?!

Aber natürlich gibt es Ateliers! Wir leben ja in einem Jahrhundert, in dem das Künstlersein so verbreitet ist wie die tageweise ausgestellten Durchgangspässe der Journalisten. Der Künstler ist la femme visible, von allen betrachtet, bekannt und durchforscht in seiner gelben Haut. Künstlerateliers sind denn auch an jeder Straßenecke zu finden, auf jedem mitteleuropäischen Platz, und wenn man hineingeht, tritt man vor einen schlechten und in Zukunft belanglos bleibenden Künstler, der einen nicht gehen lassen will, der riecht und dem dieser billige Wille zur Macht anhängt, der heute schon jedem Videokünstler in den Vororten zu eigen ist (wenn es doch noch Reaktionäre gäbe wie Schopenhauer, der einem Offizier sein Opernglas lieh, damit er die "souveräne Kanaille" hinter den Barrikaden ausspähen konnte). Diese Künstler: von der Welt gekränkt, noch ehe die Welt sich ihrer angenommen hat, nicht subdued, nicht förmlich genug; anstelle dessen nur ein falsches fernöstliches Schweigen und unfertige Zeichnungen auf Möbeln im Neckermann-Stil, unfertige Ichheiten und diesen Zustand erhöhter Paranoidität, der sowieso umsonst zu haben ist ...

Als ich den Maler Simon Pasieka kennen lernte, wohnten wir beide in Paris; ein gemeinsamer Freund hatte uns miteinander bekannt gemacht. Nachdem wir uns einige Male für einen Kaffee oder einen Kinobesuch getroffen hatten (er kam oft auf dem Fahrrad, mit einer Mütze hoch oben im Gesicht, und seine großen Lippen waren immer aufgerissen von dem ganzen Sehen der letzten Nacht), besuchte ich ihn im September 2001 in seinem Atelier in Montreuil. In diesem Vorort spielen afrikanische Kinder zwischen den überernährten Trinkern mit ihren Plastiktüten, und das Wasser murmelt in den Trottoirrinnen; nur die Blicke der weißen Frauen jagen in allen Richtungen. (Man erinnert sich dort wie von selbst an André Bretons Projekt, in den Weichrändern von Paris eine "proprieté" für artistische Zwecke anzumieten.) Pasieka arbeitete damals an seiner Kunst: er malte Tag und Nacht "wie angesteckt", manchmal 24 Stunden lang, ohne zu essen, ohne zu schlafen... In manchen Wochen verließ er sein Atelier überhaupt nicht. In jenem Jahr fing es an, daß er seine Bilder zu besseren Preisen verkaufen konnte; doch er wohnte immer noch in Montreuil in dieser kleinen Hinterwohnung, die er sich von einem Preisgeld gekauft hatte. Es gab darin einen Korridor, der sich schrittweise ausdünnte, erinnere ich mich, und eine große Küche, in der er wohl oft gestanden hat (die Gäste warteten mit dem Trinken auf ihn) und hellhörig, wie nur er es sein konnte, Fisch dämpfte. Er mochte es, große Fischessen für seine Freunde zu veranstalten, mit jungen Frauen, die stündlich in Galerien arbeiteten, mit Männern, die gerade ihre Start-ups verlassen hatten, mit staatlich angestellten Mathematikern und mit sehr wehrlos anmutenden Driftern; es gab viel Wein, und Pasieka zeigte dann allen, wie man mit dem Fischmesser seiner japanischen Freundin, einem richtigen katana, Barsche und seltene Brassensorten säuberte. Es waren Künstlerabende, mit Tellern auf Tapetenpapier, mit der sozial sehr paßgenauen grandeur französischer Ausschweifung und überhaupt mit viel nicht angerichteter Zeit.

Bei meinem einzigen wirklichen Atelierbesuch bei Pasieka passierte sonst nicht viel: er sprach mit mir, sprach über sein Leben in Paris, seine Kindheit in einem leeren Haus in Westdeutschland, über seinen Vater (der auch Maler ist, Landschaftsmaler) und über gewisse Freunde. Und irgendwann merkte ich, daß er eigentlich immerzu geradezu troff von Gegenständlichkeit. So muß es sein, wenn er mit dem Fischmesser arbeitet.

Simon Pasieka, auch das begriff ich an jenem Tag, ist eigentlich ein Menschenmaler. "Ein Deutscher, der seit einigen Jahren in Paris Menschen malt" -- diese Beschreibung würde ihn recht genau treffen. Bei diesem Atelierbesuch gab er mir einen Katalog mit einer Serie von Wasserfarbenbildern: Robert-Walser-Menschen, junge Dinger mit hülsenartigen Organen, die da in Grotten, Zirkuszelten, vor öffentlichen Aquarien oder Liegehallen stehen, die sich versammeln um ein Lagerfeuer oder einen Bündel Öllampen; und meist gibt es einen Spiegel, der alles wieder verwirft, was man sieht, und Vorhänge und andere Requisiten. Die Kleidung dieser Menschen ist immer wie aus einem Retro-Katalog, mit Nummern auf dem Rücken und Badekappen; man sieht förmlich das Adidas-Gewebe. Dünne Menschen mit Armen, die wie in Erde gesteckt wirken. Es sind Stilleben: Menschen, die eine Reifeprüfung ablegen, die sich in einem Übergang befinden, und die sich selbst in diesem Augenblick nicht geheuer sind. Da ist z.B. auch noch dieser Zyklus aus Wasserfarbenbildern, den er im Sommer 2000 gemalt hat. Die Bilder sind so natürlich, wie sie sein müssen, aber gleichzeitig herrlich konstruiert; die Sichtachsen ergeben immer merkwürdige Zusammenhänge, als hätte ein großer Sturm sie weit übers Land getragen und irgendwo aufeinander geworfen. Vor allem ein Bild zeigt dies deutlich: ein Kabinett, vier oder fünf Männer darin, ein Mann mit einem grün ausgeleuchteten Astronautenhelm, der beinahe aussieht wie eine grünspanige Diner-Glocke, einen Modell-Jet in den Händen haltend, und eine sich bückende Frau, so gebückt, daß ihr Rock gespannt ist, und Löcher in den Wänden, durch die geblickt wird, Spiegel und Paravents. Viele Glieder, die in sehr befremdliche, oft gespiegelte Collagen aus Perspektivlinien eingefügt sind, wie absichtlich in merkwürdige Rumpfhaltungen gezwungen; und da ist es, als gebe es zum ersten Mal Menschen, nur auf den Bildern von Pasieka und sonst nirgends. Einer seiner besonderen Kniffe, derer man sich nicht sofort gewahr wird, ist es, daß sehr viele dieser Menschen dem Maler selbst ähneln, eigentlich auch er selbst sind, nur in verschiedenen Geschlechtern, verschiedenen Posen und Altersstufen. Oft gibt es außerdem ein zur-Seite-Schauen eines großen männlichen Menschen. Den Menschen eignet überhaupt so eine "Statuarik", eine Verinnerlichung, ein Sitzenbleiben und Anschauenwollen, das unheimlich und nah ist. Es ist sehr zugig in Pasiekas Bildern, und das Sehen wird dadurch selbst sehr zugig; irgendeine Bedrohung ist zu spüren, derer man nicht habhaft wird, "ein unbestimmtes Furchtbares im Zunehmen", von dem Rilke im Zusammenhang mit Cézanne gesprochen hat.

Nach diesem einzigen echten Atelierbesuch verloren wir uns aus den Augen. Die Zeit verging schnell. Wir waren uns nicht fremd geworden, aber ich hatte Paris verlassen, und er malte halt immer fort. Doch dann wünschte er mir in einer E-mail, vier Jahre später, zu Neujahr 2005 folgendes: "Märchenhaft schlafen, essen, trinken, lieben, leben, lachen, lauschen ... Wunderbare Momente des Glücks in jedem Augenblick, den deine Augen, deine Nase, dein Mund und die Hände mit ihren niedlichen Daumen, verzaubern." In dieser Notiz, glaube ich, sieht man, daß Pasieka dem Piero della Francesca vielleicht noch mehr als den Surrealisten verdankt.

Nach dieser E-mail "kehrte" ich zu diesem Maler "zurück", sah mir seine neusten Werke im Internet an: da ist zum Beispiel dieses rätselhafte Bild "Begierde", oder das Bild "Floß" (Acryl und Ölfarben) von 2003, auf dem vier Menschen zu sehen sind, im Zustand körperloser Nacktheit, und die Männer atmen durch Schläuche etwas ein, das aus dem Wasser aufsteigt - wohl ein ungiftiges Gas. In der Ferne schweben rote Lampions aus Papier. Man denkt an das Naturtheater von Oklahoma, an die seltenen Missstimmungen auf japanischen Bildern. Es gibt wenig wirklichen Sex in diesen Bildern, nur so eine unterirdische Androgynität; wirkliche, sexuelle Energie gibt es nicht. Es gibt doch wohl auch schon viel zu viel davon in der Welt.

Das Bild "Reifenschaukel" (2003): junge Menschen im Freien, mit gewellten Wänden aus krebsschalenblauem Metall, Urwald wie ein atemdichtes grünes Spiegelbild. Bei diesem Bild kamen mir dann einige Gedanken.

Ich dachte: in dieser Zeit, in der alle Wörter, Gesichter und Grenzen aufspringen, ja von innen aufplatzen, ist es schier unmöglich, die Energie der Zeit in eine feste, fortdauernde Form zu fassen. In diesen Jahren gibt es einen eigentlichen Überschuß an Einbildungskraft, die dem Individuum (der letzten Form, der Form aller Formen) kräftig zusetzt. In Deutschland verschießt sich ja überhaupt die Einbildungskraft in allen nur erdenklichen Haltungen des Ichs, als wäre Berlin plötzlich wieder erfüllt von jenen spitzen Köpfen, die Jakob van Hoddis gemeint hat ("Weltende", 11. Januar 1911) -- und doch bleibt es immer bei diesem einen deutschen Ich, wie es sich auch dreht und kehrt, ein gleichartiges deutsches "Ich" im Berliner Mief, zwischen den Gerätschaften des Konsumerismus und den wortarmen Verhandlungen von kaltem Sex. Dabei käme es doch eigentlich darauf an, dieses eine, große Ich zu verlassen, um zu einem echten Realismus zu finden. Wahrscheinlich käme es darauf an.

Doch in Simon Pasiekas Bildern erscheint es, als sei diese ganze, unaussprechbare Energie unserer Zeit in seine "Menschen" eingedrungen, habe sich ihre Haut übergezogen und stehe dann dort, schweigend. Menschen seien zu "Menschenzimmern" (Kafka) geworden, die Haufen von Konsumdingen und Besitz in sich tragen, und es wäre gut so.

Und dann dachte ich, daß der Surrealismus zu früh gekommen sei: er hätte uns nicht im Jahr 1927, sondern im Jahr 1993 treffen sollen - dann hätte man in Deutschland vielleicht einige wirkliche, surrealistische Visionen entwickeln können: große Auszüge des Ichs, Weltbeherrschungsphantasien, Herrenreiterstimmungen, afrikanische Szenen, die Welt durchflossen von Begeisterung, von Unschuld, Ehre, Träumen und aufgelösten Kolonien, und die Einbildungskraft wäre plötzlich wieder zur maitresse de la situation de l’ésprit geworden. Ohne den Surrealismus aber haben die deutschen Gedanken einfach nicht genug Tiefe, um etwas außerhalb Europas in sich aufzunehmen, sie sind zu flach, sind wie das kalte Phonoplayer-Echo auf ein Fegefeuer ... In den Körpern, die Pasieka malt, sah ich plötzlich wirkliche deutsche Gedanken, und alle diese Körper schienen plötzlich bereit, über ihre Ufer zu treten ... "Ich glaube an einfache Handlungen", schien Pasieka zu sagen, "an körperliche feste, sichtbare Dinge, die immer so sein werden wie sie heute sind; sie warten eigentlich auch auf uns, und vielleicht werden wir sie einmal begreifen, und sei es auch erst im Jahr 2020 oder viel später ..."

Am Ende war ich von einer Sache überzeugt: daß Pasieka sich in Paris eingerichtet und dort ein Atelier gekauft hat, bedeutet keineswegs, daß er nicht in Deutschland lebt -- ganz im Gegenteil: Simon Pasieka lebt und malt in Paris an seinem ureigensten deutschen Körper.

Simon Pasieka wurde 1967 in Kleve am Niederrhein geboren, studierte 1990-95 an der Hochschule fuer bildende Künste in Braunschweig, und zog 1998 mit einem DAAD Stipendium nach Paris um, wo er seidem lebt und arbeitet.

Cay Marchal, geboren 1974, studierte in Heidelberg und Peking, verbrachte einige Jahre in Paris und Osaka und lehrt heute chinesische Philosophie an einer Privatuniversität in Taipeh. Literarische Veröffentlichungen auf Chinesisch und Deutsch (z.B. in "Lichtungen" und im Kursbuch). 2007 erschien sein erster Roman (Der Romantiker des Nichts. Das letzte Jahr im Leben des taoistischen Mystikers und Privatgelehrten WANG BI, Wiesenburg).

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