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no. 26: visuelle kultur -> editorial
 

editorial

Unter dem Nenner Visuelle Kultur geht es im Kern um die Befragung kultureller Phänomene jedweder Art nach deren visueller Repräsentation; nach dadurch provozierten Reflexen und Gewohnheiten der Wahrnehmung; nach ihrer visuell bedingten Rezeption. Dieses Vorhaben setzt erfolgreiche Begriffe von Visualität und Bild voraus. Selten genügt der erste Blick, um zu verstehen, mit welchen Bildern man es zu tun hat. Zudem: Wer macht was mit den Bildern? Zu welchem Ende? Welche visuellen Eigendynamiken entstehen?

Dem Objektbereich visueller Kultur sind kaum Grenzen gesetzt. Eine Gebrauchskultur wie die Werbung kommt ebenso in Betracht wie die Hochkultur der bildenden Kunst. Ja gerade der Verkehr zwischen verschiedenen Funktionsebenen interessiert im Kontext visueller Kultur aufgrund seiner möglicherweise sinnstiftenden Qualität.

Anlaß zu einer so umfassenden Analytik des Sehens wie sie im Namen visueller Kultur betrieben wird, gibt ein sich abzeichnender Paradigmenwechsel, der kulturelle Theorie und Praxis gleichermaßen herausfordert, ihm gerecht zu werden.

Diesen Paradigmenwechsel kann man cognitive turn nennen, weil es um die Gegenüberstellung einer universal-physiologischen und kulturell-relativen Phänomenologie des Sehens geht. Oder auch iconic turn, weil zumal in den Massenmedien zunehmend visuell und weniger auf der Grundlage von Texten kommuniziert wird. Parallel dazu kommen natürlich auch der Begriff des Bildes selbst und das zugehörige semantische Feld in Bewegung.

Visuelle Kultur bezeichnet nicht in erster Linie eine einzelne akademische Disziplin, sondern ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das wissenschaftliche Ansätze ebenso umfaßt wie künstlerische und politische. Es handelt sich um ein deskriptives und zugleich normatives Projekt: Denn sich mit Fragen visueller Kultur auseinanderzusetzen, heißt, die Dimensionen der Wahrnehmungspotentiale zu erweitern und Kultur über eigene Interessen und eigene Wege neu zu gestalten.

Im ersten Schwerpunkt-Essay dieser parapluie-Ausgabe fragt Sandra Poppe, was Literatur, Malerei und Film gemeinsam haben -- und sie präsentiert spannenden Thesen dazu, wie der Begriff Visualität helfen kann, eine Brücke zwischen den Künsten zu schlagen.

Birgit Haehnel übt Kritik an den hegemonialen Strukturen des euro-amerikanischen Blickregimes und erläutert, weshalb Arbeiten von GegenwartskünstlerInnen insbesondere der Diaspora überraschende neue Sichtweisen bieten.

Eine Einladung zur Geister-Show kommt von Igor Krstic Dabei geht es weniger ums Gruseln als um die Prinzipien moderner Visualität und ein Modell für Trends des zeitgenössischen Kinos.

Daß sich über die visuelle Kultur sogenannten Trash-Fernsehens mehr sagen läßt, als ein lapidares "ekelhaft!", beweist Frank Illing. Er argumentiert, daß ironische Rezeptionsweisen erprobt werden, die sich nicht an den Idealen des 'Guten, Schönen, Wahren' orientieren.

Ole W. Fischer agiert als Zeuge einer Revolution: Zunehmend wird in Diskursen der Alltagsarchitektur und stadträumlicher Lebenswelten Anspruch auf Deutungshoheit im Namen visueller Kultur erhoben. Kann das gut gehen?

Mit dem Starkoch Ferran Adrià beobachtet Theo Steiner nicht nur einen Meister des Gaumenkitzels, es gilt auch, die visuelle Gestaltung von Adriàs Speisen in den Blick zu nehmen.

Nicht zuletzt spürt Ina Cappelmann den Einflüssen der visuellen Medien auf die Literatur bei Thomas Mann und Arno Schmidt nach.

Christoph Bock
Thomas Wägenbaur

 

autoreninfo 
Christoph Bock studierte Germanistik, Komparatistik und Philosophie in Tübingen, Seattle und München. Arbeitet als freier Lektor und Redakteur. Interessiert sich für Retro- und Cyberkulturen, Medientheorien und Brass Band Jazz.
E-Mail: christoph.bock@parapluie.de

Prof. Dr. Thomas Wägenbaur M.A. in Komparatistik, University of California/Berkeley; Ph.D. in Komparatistik, University of Washington/Seattle, 2000-2009 Prof. of Cultural and Cognitive Studies und Director of Liberal Arts an der International University in Germany/Bruchsal. Zur Zeit freier Dozent und Kommunikationsberater. Veröffentlichungen zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie. Forschungsschwerpunkte: natürliche vs. künstliche Sprachverarbeitung (Philosophy of Mind); Postkolonialismus und Globalisierung; Kognition in der Entscheidungstheorie.

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